Märchen – der Schrecken von Kindern und Eltern?
Wer hat Angst vor dem bösen Wolf? Märchen und ihre Figuren kommen bei Kindern und Eltern nicht immer gut weg. Im Interview mit Franziska Weber vom Zentrum Lesen der FHNW gehe ich der Gattung der Märchen auf den Grund.
Schöne Geschichten oder veraltetes Kulturerbe?
Viele Eltern haben Respekt davor, ihren Kindern Märchen zu erzählen, haben Vorbehalte gegenüber der «Moral von der Geschicht», wollen ihre Kinder nicht mit der Gewalt, der Trauer oder dem Verrat aus den alten Geschichten konfrontieren oder sie möchten die veralteten Rollenmodelle nicht an ihre Kinder weitervermitteln.
Gleichzeitig schaut sich zumindest die weibliche Hälfte meiner Leserschaft mindestens einmal im Jahr «Drei Haselnüsse für Aschenbrödel» an und so manche träumt davon, in einem Cinderella-Kleid zu heiraten. Wie Anita Müller, Direktorin vom SIKJM, sind auch mir die Hörspiele von «Hänsel und Gretel» oder «Schneewittchen» und der Film vom «Froschkönig» noch in sehr lebhafter Erinnerung (siehe Interview mit Anita Müller "Früh übt sich, was ein Bücherwurm werden will").
Es war einmal…
Was hat es denn nun mit den Märchen auf sich? Sind sie wirklich der Schrecken von Kindern und Eltern? Haben sie im Gegenteil mehr zu bieten, als viele Eltern denken? Und gibt es auch moderne Märchen? Das und mehr habe ich Franziska Weber vom Zentrum Lesen der FHNW gefragt.
MINT & MALVE: Frau Weber, vielen Dank, dass Sie mir in diesem Interview im Rahmen meiner Blogparade «Im #vorlesefieber mit MINT & MALVE» Rede und Antwort stehen.
Was macht ein Märchen eigentlich aus? Was unterscheidet es von anderen Geschichten, die wir unseren Kindern tagtäglich vorlesen?
Zuerst muss man zwischen klassischen Märchen und Kunstmärchen unterscheiden. Die klassischen Märchen oder auch Volksmärchen sind überlieferte Geschichten. Kunstmärchen hingegen werden von einer Autorin oder einem Autor mit der Absicht verfasst, ein Märchen zu schreiben. Sie sprechen mit ihrer Frage wohl eher die klassischen Märchen an.
Genau. Wodurch zeichnen sich die Volksmärchen aus?
Volksmärchen haben meist ganz klare Strukturen und halten sich an bestimmte Regeln. Als Zuhörerin oder Zuhörer kann man sich auf diese Strukturen und Regeln, auf den Ablauf verlassen, wie zum Beispiel darauf, dass am Ende des Märchens stets das Gute siegt. Ausserdem sind Märchenwelten und die handelnden Figuren immer eindeutig und klar: Gut oder böse, schön oder hässlich, arm oder reich, dumm oder klug, grosszügig oder geizig, traurig oder glücklich usw. Menschliche Gefühle wie Mitleid, Freude, Trauer werden dabei nur am Rande angetönt, aber nicht wirklich beschrieben. Die Innensichten der Figuren werden kaum beschrieben. So entsteht eine gewisse Distanz zum Geschehen. Deshalb kann in Märchen auch das Böse vorkommen, denn man kann sich darauf verlassen, dass die Guten siegen werden.
Das sind grundlegende, entscheidende Merkmale von Märchen, natürlich gibt es noch weitere, doch das würde den Rahmen hier aber sprengen.
Ab welchem Alter sind denn Märchen überhaupt ein Thema für Kinder?
Das ist sehr individuell. Einzelne, linear erzählte Märchen wie etwa Hans im Glück werden schon kleine Kinder ab etwa 4 Jahren verstehen. Komplexere Märchen kommen dann später dazu, auch je nach Vorerfahrung der Kinder mit dem Thema Märchen.
Welche Tipps geben Sie Eltern mit auf den Weg, wenn sie mit ihren Kindern in die Märchenwelt eintauchen wollen? Was sollte man beim Vorlesen beachten?
Für das Erzählen von Märchen gelten die gleichen Grundsätze, wie beim Erzählen oder Vorlesen anderer Geschichten. Erzählen braucht vor allem Zeit. Nicht nur die Zeit, die es zum Erzählen oder Vorlesen braucht, sondern auch Zeit, weil zwischendurch Dialoge entstehen können, Gespräche über das, was in der Geschichte passiert oder auch darüber, was einem beim Erzählen durch den Kopf geht. Es braucht also eine gute, entspannte Atmosphäre. Dabei ist es nicht zwingend, dass Kinder immer alles verstehen, es geht vielmehr um das gemeinsame Geniessen, die Nähe und Geborgenheit miteinander. Erfahrungen haben gezeigt, dass solche Erzählstunden für Kinder dann besonders attraktiv sind, wenn die Eltern die Geschichten oder Märchen selber mögen und auch zeigen, dass sie an einzelnen Figuren oder der Handlung ihren Spass haben. Solche Erzählmomente sollten, wenn immer möglich, für beide Seiten zu einem Genuss werden.
Was können Kinder aus der Welt der Märchen mitnehmen? Was lernen sie aus den Geschichten?
Ich komme aus der Lese- und Schreibdidaktik und kann Ihnen auf diese Frage keine schlüssige Antwort geben. Was Märchen bewirken und bei Kindern auslösen, dazu müssten Sie eine Psychologin oder einen Psychologen befragen. Aus Sicht der Sprachdidaktik lernen Kinder aber sehr viel, wenn sie einfach «nur zuhören»:
Sie eignen sich nach und nach einen Fundus von Erzählstoffen an, von Figuren und fiktionalen Begebenheiten. Damit erhalten sie wichtigen Nährstoff für ihre eigenen Imaginationen. Sie lernen, was man sich ausdenken, was man erzählen kann.
Sie erhalten sprachliche Vorlagen für das Erzählen. Sie lernen Möglichkeiten und Muster kennen, die sie beim eigenen Sprechen und Schreiben wiederverwerten können. Sie werden sie direkt übernehmen und zunehmend auch abändern. Sie lernen, wie man etwas Ausgedachtes, Gelesenes oder Erlebtes erzählen kann.
Sie konzentrieren sich auf die gehörten Wörter und Sätze, buchstäblich auf den Wortlaut also und bekommen dabei mit, wie jemand einen Text vorträgt. Sie lernen, wie man Texte für andere und vor anderen präsentieren kann.
Sie erfahren immer wieder, wie spannend die Welt zwischen zwei Buchdeckeln sein kann und dass sich die anfänglichen Mühen beim Lesenlernen lohnen.
Was, wenn ich die Geschichten, die Märchen erzählen, mag, aber nicht unbedingt das Bild von Prinzessinnen vermitteln möchte, die nichts anderes tun, als auf ihre Prinzen zu warten? Gibt es da Alternativen – gewissermassen moderne Märchen ohne veraltete Geschlechterklischees? Haben Sie zwei, drei konkrete Tipps?
Parodien und Persiflagen zu Märchen gibt es zuhauf. Janosch beispielsweise hat im Buch «Janosch erzählt Grimm's Märchen» über 50 Märchen neu erzählt. Da kommen auch erwachsene Leser und Leserinnen immer wieder ins Schmunzeln. Sehr empfehlen kann ich ausserdem die Bücher von Mario Ramos «Ich bin der Stärkste im ganzen Land» und «Der Wolf im Nachthemd». In beiden Büchern nimmt der Künstler vor allem den bösen Wolf aus Rotkäppchen aufs Korn.
Auch die «etwas anderen» Prinzen und Prinzessinnen findet man: Da gibt es für Kinder die Geschichte von Babette Cole «Prinzessin Pfiffigunde», die von einer absolut frechen und unerzogenen Göre von Prinzessin erzählt. Auch die bekannte Kinderbuchautorin Kirsten Boie hat zwei ganz tolle Bücher über eine Prinzessin geschrieben, «Prinzessin Rosenblüte» und «Prinzessin Rosenblüte. Wach geküsst!», die im realen Leben niemand mag, weil das Gehabe und Getue alle nervt und diese Prinzessin schlicht keine Ahnung hat, wie man im Alltag zurechtkommt.
Im Bilderbuch von Greg Gormley und Chris Mould, «Der Prinz muss mal Pipi» kommen viele Märchenfiguren vor und das Buch endet gut, nicht weil der Prinz so tapfer war, sondern weil er im richtigen Moment mal musste (siehe Besprechung im Blog vom Zentrum Lesen). Auch im Buch von Sybille Hein, «Prinz Bummelletzter» gewinnt der Prinz die Hand der Prinzessin, weil er eigentlich ein Verlierer ist, ständig vor sich hinträumt, Sachen vergisst und fast immer zu spät kommt.
Herzlichen Dank für das spannende Interview! Das macht richtig Lust, sich ins Reich der Zwerge, Prinzessinnen und Max-und-Moritz-Streiche zu stürzen.
Übrigens: Ein modernes Märchen findet ihr bereits auf dem Blog. Im Rahmen der Instagram-Aktion #bücherfürmehrweltoffenheit habe ich «Prinzessin Hannibal» von Melanie Laibl und Michael Roher empfohlen.
Wer Lust auf Neues hat, dem empfehle ich die arabischen Märchen, die Franziska Meiners in «Das Flüstern des Orients» erzählt – ergänzt um wunderbare Illustrationen.
Franziska Weber ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Zentrum Lesen der PH FHNW mit dem Schwerpunkt Leseförderung. Im Rahmen des «Schweizer Vorlesetags» organisiert Franziska Weber in Kooperation mit dem Institut für Weiterbildung der PH FHNW einen Weiterbildungsnachmittag für Lehrpersonen und Interessierte am Campus Brugg-Windisch. Zusammen mit Maria Riss hat sie für diesen besonderen Tag ausserdem passende Vorlesebücher auf dem Blog des Zentrums Lesen zusammengestellt.*
Jahr für Jahr erscheinen unzählige neue Kinder- und Jugendbücher. Im Blog zu Kinder- und Jugendliteratur veröffentlichen Mitarbeitende des Zentrums Lesen sowie eingeladene Gäste laufend Empfehlungen für Kinder- und Jugendbücher, stellen Unterrichtsideen sowie neue Erkenntnisse aus der Forschung vor. Ein besonderes Highlight ist die Auswahl der besten Bücher aus jedem Jahr seit 2013.*
Das Zentrum Lesen der Pädagogischen Hochschule FHNW forscht und entwickelt im Bereich der Literalität mit dem Ziel, Kinder, Jugendliche und Erwachsene in ihren sprachlichen Kompetenzen zu fördern. Dabei werden auch Lehrpersonen in ihrem Unterricht unterstützt. Bei einer jährlichen Tagung im Herbst werden Einblicke in Lernmaterialien und die gewonnenen Forschungsergebnisse zum Sprach- und Schriftlernen im Kindergarten, auf der Primar- und der Sekundarstufe gegeben.*
* Diese Bilder stammen vom Zentrum Lesen.
Im #vorlesefieber mit MINT & MALVE: Anlässlich des ersten Schweizer Vorlesetags vom 23. Mai 2018 findet bei MINT & MALVE die Blogparade #vorlesefieber statt.
Mit Beiträgen rund ums Vorlesen zeige ich vom 11. April bis zum 23. Mai 2018, wie wichtig und schön das Vorlesen ist, wie viel Spass und spannende Stunden Kinderbücher den Kindern und ihren Bezugspersonen bringen.
Du bist selber Blogger oder Autorin für ein Online-Magazin? Dann nimm an der Blogparade teil und zeige, was Vorlesen für dich bedeutet – egal, ob mit Kinderbuchtipps, Tipps zum Vorlesen, Einrichtungstipps für die Vorleseecke, einem DIY oder Rezepten rund ums Buch. Deinen Ideen sind keine Grenzen gesetzt! Die Details und die bisherigen Beiträge zur Blogparade findest du im Auftaktbeitrag.
Vorlesen braucht deine Stimme! Mach am 23. Mai 2018 am ersten Schweizer Vorlesetag mit: Lese in deiner Familie, in einer Schule, einem Kindergarten oder einem anderen Vorleseort eine Geschichte vor und trage dich auf der Website ein. Jeder Eintrag zählt!
Der vom SIKJM initiierte Schweizer Vorlesetag ist ein nationaler Aktionstag, der zeigt, wie wichtig und schön Vorlesen ist. Denn regelmässiges Vorlesen schafft nicht nur Nähe, sondern unterstützt Kinder auch in ihrer Entwicklung. Kinder, denen täglich vorgelesen wird, haben einen grösseren Wortschatz und sie lernen leichter lesen und schreiben.
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