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Angelina - Verlorene Familie

Sagt euch das Stichwort "Kinder der Landstrasse" etwas? David Bielmann nimmt sich diesem düsteren Kapitel der Schweizer Geschichte mit "Angelina - Verlorene Familie" in Romanform an und verwebt seine eigene Familiengeschichte gekonnt mit der Zeitgeschichte.



Fürsorgerische Zwangsmassnahmen (wie Fremdplatzierungen, Zwangssterilisation oder Freiheitsentzug) gab es in der Schweiz bis 1981! Auch dank dem grossen Engagement von Betroffenen - zum Beispiel von ehemaligen Verdingkindern - wird dieses dunkle Kapitel der Schweizer Geschichte und Justiz seit einigen Jahren aufgearbeitet. Unter anderem in einem Nationalen Forschungsprogramm NFP76 "Fürsorge und Zwang", das sich neben der Vergangenheit auch Fragen der Gegenwart und Zukunft annimmt.


David Bielmann nimmt sich der Thematik und speziell dem "Hilfswerk für die Kinder der Landstrasse" auf Basis der wahren Geschichte seiner Grossmutter Angelina Eugster an. In fiktionalisierter Form rollt er die Geschichte von Angelinas Vorfahre Johann Friedrich Moser her auf. Dieser lebte anfangs des 19. Jahrhunderts in der Lenzerheide, im Kanton Graubünden, und bekam 1824 das erste von insgesamt 11 Kindern.


"Der Kleine verzog leicht den Mund und spreizte die Finger, als würde er träumen, und Johann Friedrich fragte sich, ob das möglich war, ob man nicht zuerst die Welt kennenlernen musste, bevor man träumen konnte, oder ob man schon mit Träumen geboren wurde." / S. 11

Diese Kinder hatten wiederum kinderreiche Familien, womit ein weitverzweigtes Verwandtschaftsnetz entstand, das manchen Zeitgenossen ein Dorn im Auge war.


Johann Friedrich Moser und seine Nachfahr*innen übten Berufe wie Abdecker, Kesselmacher, Glockengiesser, Hausierer*innen etc. aus und wurden als "Vaganten" stigmatisiert und marginalisiert und auf der Grundlage der eugenischen Schrift des Psychiaters Johann Josef Jörger und nationalsozialistischer Vorstellungen von Rassenhygiene mit dem als karitativ getarnten "Hilfswerk für die Kinder der Landstrasse" ihrer Kinder beraubt. Diese wurden ihren Familien - insbesondere auch alleinstehenden Müttern - weggenommen und in anderen Familien in der Schweiz platziert, um sie quasi von der "Vaganterei" zu befreien und zu "funktionierenden Elementen der Gesellschaft" zu machen. Und genau in diese menschenfeindlichen Mühlen gerieten auch Maria Ursula und ihre Tochter Angelina Eugster.


"Jörger hatte in Siegfried den Vollstrecker seiner xenophoben Visionen gefunden. Dieser Siegfried kümmerte sich nämlich nicht um das Wohl der Kinder oder Jugendlichen. Unter dem Deckmantel der Nächstenliebe und der Jugendfürsorge hatte er ein perfides System erschaffen. Und dieses System erfuhr die breite Unterstützung des ganzen Landes, von der Bevölkerung bis zum Bundesrat." / S. 187

David Bielmann erzählt jedes Kapitel aus der Perspektive eines anderen Familienmitglieds der Mosers (und Parpans, Eugsters und Wasers) aus unterschiedlichen Generationen sowie aus der Sicht unterschiedlicher Zeitgenoss*innen - deren Leben und Wirken irgendwie mit der Familie Angelinas verwoben war. Der Autor schreibt immer in der dritten Person, lässt aber tief in die Gedankenwelt der jeweiligen Protagonist*innen blicken und diese auch selbst zu Wort kommen. Neben den Familienmitgliedern kommen beispielsweise der Nationalrat (und Gegner des Nationalsozialismus und des "Hilfswerks") Gaudenz Canova, der erwähnte Johann Josef Jörger und sein Kollege Auguste Forel, Begründer der Schweizer Psychiatrie, Angelinas Lehrer Nicolo Jochberg oder Alfred Siegfried, der erste Leiter des "Hilfswerks für die Kinder der Landstrasse", das 1926 von der Pro Juventute ins Leben gerufen und erst 1973 aufgelöst wurde, vor. Auch Renée Schwarzenbach, Mutter der Schweizer Schriftstellerin Annemarie Schwarzenbach, hat einen Auftritt (mehr zu ihr und anderen bedeutenden Frauen der Schweizer Geschichte erfahrt ihr im Sachbuchcomic "Kira & Kooki").


"«So hart es klingen mag», sagte er [der Dorflehrer von Obervaz, a.d.R.] mit besorgtem Gesicht, «aber ich denke, man muss versuchen, den Verband dieses Volkes zu sprengen. Die Familiengemeinschaft auseinanderzureissen.» Nach einer Denkpause fügte er hinzu: «Und dabei müssen wir bei den Kindern anfangen. Wir müssen die Kinder von der Landstrasse wegbringen.»" / S. 141

Der in Rechthalten (Kanton Freiburg) aufgewachsene Autor David Bielmann hat die Geschichte Angelinas in wunderschöner, eleganter Sprache niedergeschrieben. Trotz der düsteren Thematik und dem Leid, das aus den Schicksalen spricht, schafft es der Autor, seinen Episoden einen gewissen Schalk einzuhauchen. Dabei wird besonders am vielfädigen Netz, das er zwischen Angelinas Familiengeschichte und den Ereignissen der Weltgeschichte (rund um den Nationalsozialismus) und einigen berühmten Exponent*innen (von Eiskunstläuferin Sonja Henie, über Leni Riefenstahl, bis Adolf Hitler) spinnt, deutlich, wie intensiv er dafür recherchiert hat. An einigen sehr interessanten geschichtlichen Hintergründen lässt er uns im Anhang auch teilhaben.


Die Lektüre verlangt aufgrund der vielen Personen und Generationen einiges an Konzentration. Aber David Bielmann stellt sehr geschickt immer wieder die Verbindungen her. Sprachlich ist der Roman so gut zu lesen und fesselt einen inhaltlich so sehr, dass man leicht dabei bleibt. Ein Roman, der mich sehr beeindruckt und bewegt hat, der zum Nachdenken anregt und noch lange nachhallen wird.


Fazit

David Bielmann hat mit "Angelina - Verlorene Familie" ein äusserst berührendes, literarisch eindrückliches Buch über ein Familiendrama geschrieben und es in den zeitgeschichtlichen Kontext gebettet. Ich kann die Lektüre dieses Romans gegen das Vergessen nur empfehlen und hoffe, dass er dazu beiträgt, dass sich die Geschichte nicht wiederholt - sei es nun in Bezug auf fürsorgerische Zwangsmassnahmen im Speziellen oder rechtsradikale, xenophobe Tendenzen im Allgemeinen.



Die Fakten

David Bielmann

Zytglogge

264 Seiten

Erschienen am 09.10.2023

Hardcover

ISBN: 978-3-7296-5134-0





PS: Herzlichen Dank an den Autor und den Zytglogge Verlag für das digitale Rezensionsexemplar.


Starkes Ding - Lika Nüssli (Edition Moderne, 2022)

Thema der Verdingkinder als Graphic Novel

Illustratorin und Comic-Künstlerin Lika Nüssli nimmt sich in ihrer Graphic Novel "Starkes Ding" den jungen Jahren ihres Vaters Ernst als Verdingbub an. Ich möchte euch das Buch auch noch eingehend vorstellen, aber schaut doch schon mal bei der Edition Moderne vorbei!




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