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Habt ihr schon Käffchen?

Ein neuer Roman von Sven Regener weckt Erwartungen, hohe Erwartungen. Hat "Wiener Strasse" diese in meinem Fall erfüllt oder nicht? Das und ein bisschen was aus dem Nähkästchen der Frankfurter Buchmesse erfahrt ihr in diesem Blogbeitrag.

Cover "Wiener Strasse", Sven Regener, Galiani Berlin, 2017

Der neue Roman von Sven Regener startet fulminant: "Die Tür fiel zu und es war zappenduster." Was denn hier überhaut los ist mit Frank Lehmann und den ganzen anderen Pfeifen rund um Erwin Kächele - den Inhaber des Café Einfall, Wiener Strasse, Kreuzberg, Westberlin, November 1980 - müssen wir uns im nächsten Satz - einem Monstrum von Satz über zweieinhalb Seiten - teuer erarbeiten. Es lohnt sich, die Ausgangslage ist danach klar: Erwin Kächele und seine Freundin Helga erwarten ein Kind. Klar, dass sie da etwas mehr Ruhe brauchen und ihre Mitbewohner Frank Lehmann, Karl Schmidt, H.R. Ledigt und Erwins Nichte Chrissie ausquartieren wollen. Gesagt, getan. Erwin mietet die Wohnung über seiner eigenen dazu und spediert die ganze Truppe aus seiner Wohnung.

So einfach die Idee, so schwierig gestaltet sich die Umsetzung. Schon im Baumarkt geht der erste verloren, H.R. Ledigt. Den kümmert das aber wenig. Er kauft sich - nicht ohne einen Streit vom Zaun zu brechen - eine Kettensäge und läuft damit den ganzen Weg zurück in die Wiener Strasse, in ständiger Angst vor den Kindern, die sich im Quartier rumtreiben. Die dringend notwendige Renovation der ganz in Schwarz gestrichenen Wohnung übernimmt hauptsächlich Nachbar Marko, weil die anderen eigentlich nicht so wirklich Bock auf die oder Ahnung von der Sache haben.

Im Verlauf der Geschichte, die ohne grössere Handlung auskommt, mehr auf witzigen Szenen aufbaut, treten die österreichischen Aktionskünstler der ArschArt Galerie auf den Plan. Sie haben ausgerechnet den ehemaligen Intimfriseurladen direkt neben dem Einfall gekauft und machen Erwin und seinen Freunden fortan das Leben schwer und der Neuen Neuen Nationalgalerie, eigentlich die Auslage vom Tresen, von H.R. Ledigt und Karl Schmidt Konkurrenz. Und dann taucht auch noch Erwins Schwester Kerstin auf und nötigt ihn, mit Helga den Geburtsvorbereitungskurs zu besuchen, Übungsbauch a.k.a Schwangerschaftssimulator inklusive.

Das Ganze gipfelt in einem grossen Tumult - ja die Kettensäge spielt da eine gewisse Rolle - rund um die sehr avantgardistische Kunstausstellung "Haut der Stadt".

Ein typischer Regener - oder doch nicht?

Die Sprache, der Wortwitz, der Umgang mit dem Berliner Dialekt, der Humor, die 80er-Jahre in Berlin, die Künstlerszene, der liebevolle Blick auf all die Pfeifen, die prominente Rolle einer Kaffeemaschine, all das ist typisch Regener und hat mir an "Wiener Strasse" wie erhofft gut gefallen. Mühe habe ich hingegen mit der häufig wechselnden Erzählperspektive. Das ist neu: Sowohl in den drei "Frank Lehmann"-Bänden als auch in "Magical Mystery" erzählt Sven Regener strikt aus der Perspektive des Hauptprotagonisten, zwar in der dritten Person, aber es fühlt sich an wie ein innerer Monolog und so versinken wir tief in der Denkweise von Frank bzw. Karl. Das ist in "Wiener Strasse" anders und so fehlen mir das Mitfühlen mit einer Person, das sich Zurechtfinden in ihren Gehirnwindungen. Die Identifikation mit den Figuren fällt hier deutlich schwerer.

Sven Regener hat "Wiener Strasse" an der Frankfurter Buchmesse im Gespräch mit SPIEGEL-Autor Wolfgang Höbel als seinen humorvollsten Roman bezeichnet. Das würde ich unterschreiben. Und damit erreicht er auch sein Ziel, seine Leser gut zu unterhalten - ohne dabei allen gefallen zu wollen. Trotz einiger Längen im Mittelteil hätte ich nach den knapp 300 Seiten gerne noch weitergelesen.

Und wie Sven Regener so treffend sagt: "Belletristik ist Kunst, nicht der verlängerte Arm der Volkshochschule". Insofern stört es mich auch überhaupt nicht, dass Regener mit seinem fünften Berlin-Roman nicht plötzlich ein schwer zugängliches, schwer verdauliches, hochgestochenes literarisches Werk präsentiert, sondern uns einmal mehr in seiner saloppen, schnoddrigen Art in die 80er-Jahre entführt, die er nun mal so gut kennt. Immerhin hat er es damit auf die Longlist des diesjährigen Deutschen Buchpreises geschafft. Dass es für die Shortlist nicht gereicht hat, war leider zu befürchten.

Und schliesslich hoffe ich, dass es stimmt, wenn Regener meint: "Es sagt ja niemand, dass ich da nicht noch weitermache, solange es mir Spass macht" (ganzes Interview als Podcast hören). Wir dürfen also darauf hoffen, bald wieder in das Universum von Frank Lehmann und Konsorten einzutauchen. Aber zuerst ist wohl ein neues Album von "Element of Crime" angesagt.

Fazit

Wer die Lehmann-Trilogie liebt, wird auch Sven Regeners "Wiener Strasse" mögen. Der Roman strotzt vor trockenem Humor und Sprachwitz, schafft ein wunderbar skurriles Künstler-und-andere-Pfeifen-auf-der-Suche-nach-einem-Lebensinhalt-Ambiente. Und mal ehrlich, wer will ein Buch mit so geilem Cover - danke, Rike Weiger! - nicht in seinem Regal stehen haben. Für alle Lehmannianer also eine klare Lese- und Kaufempfehlung!

Die Fakten

Wiener Strasse

Sven Regener

Galiani Berlin

304 Seiten

Erschienen am 07.09.2017

ISBN: 978-3-86971-136-2

Herzlichen Dank an den Verlag Galiani Berlin für das Rezensionsexemplar.

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