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Aus der Zeit gefallen

In "Hagard", dem dritten Roman von Lukas Bärfuss, erleben wir mit, wie Philip, ein Liegenschaftshändler Ende vierzig, zum Jäger wird und sich dabei völlig verliert. Ein spannender Roman und gleichzeitig eine Kritik an unserer technikabhängigen Gesellschaft.

Cover Hagard, Lukas Bärfuss, Wallstein 2017

Die Geschichte von Philip wird erzählt von einem unbekannten Erzähler, der versucht, sich selbst zu erklären, was denn eigentlich geschehen ist: "Ich weiss alles, und begreife nichts.", sagt er eingangs und das bleibt auch so. Wer der Erzähler ist, wie er zu den Informationen kam oder wie er zu Philip steht, erfahren wir nicht.

Häufig reflektiert vom Erzähler erleben wir die Ereignisse nochmals mit. Alles beginnt damit, dass Philips Blick nach einem normalen Arbeitstag im März wie durch Zufall an einem Paar pflaumenblauen Ballerinas hängen bleibt. Philip verfolgt die grazile Gestalt der Besitzerin, deren Gesicht er nie sieht, mit den Augen und beginnt ihr zu folgen. Über den Platz, an den Bahnhof, in den Zug und hinaus bis in einen Vorort Zürichs. Er wird zum Stalker, ignoriert alles, was ihn sonst in geordneten Bahnen gehalten hätte: den Verlust des Portemonnaies und eines Schuhs, den dahinschwindenden Akku seines Handys, die Fahrscheinkontrolle im Zug und die Tatsache, dass er eigentlich seinen Sohn von der Tagesmutter abholen müsste.

Immer wieder weist uns der Erzähler auf die Gelegenheiten hin, die Philip hätte, um die Verfolgungsjagd abzubrechen. Und genau das zieht uns in den Bann: Wir wollen wissen, ob Philip plötzlich eine davon ergreift oder ob er sich weiter hinein begibt in diese Spirale, in die ihn der Zufall zu treiben scheint. Und bei jeder weiteren Entscheidung für die Verfolgung oder wie es der Erzähler darstellt, die Nicht-Entscheidung zum Abbruch, fragen wir uns: wieso? Wieso hat Philip scheinbar seinen Willen verloren? Wieso fällt er derart aus der Zeit, ja aus der Zivilisation und überlässt sich völlig dem Trieb?

Auch dem Erzähler bleiben die Gründe verborgen:

"Und je gründlicher ich die Einzelheiten kläre, umso schemenhafter wird die Welt, in der sich die Geschichte ereignete. Man könnte denken, es gehe mir wie jenem, den die Redensart beschreibt; doch der Wald, darauf bestehe ich, ist eine reine Behauptung, ein abstraktes System, das in der Wirklichkeit nicht zu finden ist. Der Wald zerfällt in lauter Bäume, genau wie der Himmel in Planeten zerfällt, in Sterne und Meteore." (S. 7f)

In diesem Abschnitt wird schon deutlich, was den Roman neben dem Sog der Geschichte ausmacht: Bärfuss flicht immer wieder philosophische Gedanken darüber ein, was Zufall ist, was freier Wille, was Schicksal, was ein Anfang, was ein Ende. Und wie beeinflusst unsere Zivilisation unser Handeln? Wie abhängig sind wir von der Technik?

Nicht alles hat sich mir an diesem Roman erschlossen. Besonders die Bedeutung der Szene in einem Hörsaal, die Philip aus seinem Tunnel zerrt und dazu führt, dass er versucht, seine Sekretärin per Münztelefon zu erreichen und ins normale Leben zurückzukehren, konnte ich nicht nachvollziehen.

Fazit

Lukas Bärfuss ist mit "Hagard" ein sehr spannender Roman gelungen. Es ist aber nicht einfach eine Geschichte - wie sie so oft erzählt wird - eines Endvierzigers, der aus seinem bürgerlichen Leben ausbricht. Das Buch hat starke philosophische Passagen über den Sinn des Lebens, das Funktionieren unserer Gesellschaft und das menschliche Wesen, meisterhaft eingeflochten in die Handlung. Ein Roman, der zum Nachdenken über sich selbst, die Gesellschaft und die Technik anregt und so lange nachklingt.

Die Fakten

Hagard

Lukas Bärfuss

Wallstein

180 Seiten

Erschienen am 21.02.2017

ISBN: 978-3-8353-1840-3

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