top of page

Der Himmel vor hundert Jahren

Yulia Marfutova entführt uns in ihrem Debütroman "Der Himmel vor Hundert Jahren" in ein russisches Dorf um 1918. Eine sprachlich besondere Zeitreise mit ebenso besonderen Charakteren.


Der Himmel vor hundert Jahren - Yulia Marfutova (Rowohlt 2021)

Im kleinen, aber nicht winzigen Dorf, in dem Yulia Marfutovas Roman "Der Himmel vor hundert Jahren" spielt, leben zwei alte Männer, Ilja und Pjotr. Wer von den beiden älter ist und wie alt genau, ist unklar, aber auch nicht so wichtig. Ilja hat ein Röhrchen, mit dem er das Wetter vorhersagen kann. Pjotr traut diesem modernen Ding nicht recht, er hält sich lieber an Althergebrachtes.

"Das Röhrchen. Das kann einfach nicht gutgehen auf die Dauer. Für das ganze Dorf kann es nicht gutgehen. Nicht umsonst sagt man: Wo man den Geistern die Tür weist, da gehen sie nicht mehr hinein." (S. 20)

So stehen die beiden für zahlreiche Gegensätze, die die deutsche Autorin mit russischen Wurzeln über den Plot, die Charaktere und ihre Dialoge anspricht.


"...hier in der Gegend hat schliesslich alles mit dem Fluss zu tun; alles hat mit allem zu tun und jeder mit jedem." (S. 14)

Es geht um Fortschritt und Tradition, Zukunftsglaube und Glaube ans Althergebrachte, Krieg und Frieden, Weisheit und Dummheit, Weltoffenheit und Dorfidylle, Freiheit und Leibeigenschaft, das Patriarchat und dessen Überwindung genauso wie verschiedene politische Systeme. All das kristallisiert um einen jungen Soldaten, der die Nachricht der Revolution ins Dorf bringt. Weshalb er hier gelandet ist, was er im Schilde führt und ob er bleiben wird, wissen wir nicht.

In der 3. Person erzählt Marfutova immer wieder mit wechselndem Fokus von Ilja, Pjotr, ihren Frauen, weiteren Dorfbewohner*innen, vom Mann mit den sauberen Nägeln und der jungen Annuschka, Enkelin von Ilja und seiner Frau Inna. Die Kapitel sind kurz, reissen vieles an, legen mal falsche, mal richtige Fährten. Lassen auch einige Gedanken im Sande verlaufen.

"Annuschka weiss nicht viel über Ideen, aber soviel weiss sie doch: dass sie unsichtbar sind, luftige Wesen, die nicht mit den Händen zu greifen sind. Dass etwas so Luftiges so gefährlich sein kann, geht über ihren Verstand." (S. 80f)

Die Sprache mäandert in kurzen, einfachen Sätzen, die auch mal jäh abbrechen. Satzzeichen für direkte Rede gibt es nicht. Zu Beginn war das interessant, hatte einen gewissen Sog. Aber mit der Zeit nahmen die Anspielungen, losen Enden und die Wiederholungen, die scheinbar nirgends hinführen, Überhand und auch die Sprache und die so hergestellte Atmosphäre tragen nicht durch die gut 180 Seiten. Auch wenn es durchaus einige sprachliche Perlen zu entdecken gibt, wie ihr an obigen Beispielen seht.


Ich nehme an, dass der Roman auch wegen seiner besonderen Sprache auf der Longlist des Deutschen Buchpreises 2021 gelandet ist. Auch das Setting der Umbruchphase im Russland am Anfang des 20. Jahrhunderts wäre spannend gewesen und die sonderbaren Charaktere haben ihren Charme. Trotz allem konnte mich der Roman nicht ganz überzeugen, die Personen blieben mir seltsam fremd, verschwammen ineinander und es war mir am Ende zu wenig Plot.


Fazit

"Der Himmel vor hundert Jahren" von Yulia Marfutova ist ein vielversprechender Debütroman, der nicht ganz einhält, was der Klappentext und der Einstieg erhoffen lassen. Einen zweiten, etwas stringenteren, aber sprachlich ebenso wagemutigen Roman von der Autorin würde ich durchaus gerne wieder lesen.


PS: Türen und ein Schloss spielen im Roman eine besondere Rolle. Deshalb habe ich als Hintergrund eine über hundert Jahre alte Türe im Glarnerland ausgewählt. Nur falls sich die eine oder der andere gefragt haben sollte, wie es zu dem Bild kam. ;-)


Die Fakten

Yulia Marfutova

Rowohlt

192 Seiten

Erschienen am 22.03.2021

Hardcover mit Schutzumschlag

ISBN: 978-3-498-00189-6





* Links mit * sind Affiliate-Links / Werbelinks. Wenn du das Buch über diesen Link kaufst, bekomme ich vom jeweiligen Shop eine kleine Provision. Am Buchpreis ändert sich für dich nichts. Du hilfst mir aber so, den Blog ein kleines Bisschen zu refinanzieren. Vielen Dank!

NEUE BEITRÄGE

BLOG PER E-MAIL ABONNIEREN

bottom of page