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Wenn die Welt Pause macht

Oskar ist Teil einer ganz besonderen Familie und ist selbst ein ganz besonderes Kind. In ihrem Debütroman "Mikadowälder" lässt Marie-Alice Schultz vor unseren Augen um Oskar herum einen Familienkosmos entstehen und uns in die fragilen Strukturen, Hoffnungen und Beziehungen schauen. Eine wacklige Sache wie beim Mikado.

MINT & MALVE Buchtipp: Mikadowälder, Marie-Alice Schultz, Rowohlt, 2019

"OSKAR glaubt, dass man Luft zusammenpressen kann, bis sie zu einem dicken Pudding wird, er weiss nur noch nicht, wie."

Schon die Personenbeschreibungen auf der ersten Seite sind speziell. In je einem Satz bringt uns Marie-Alice Schultz die Charaktere ihres Romans näher und macht zugleich deutlich, wie besonders jeder Mensch ist. Im Kern geht es um Mona Tsarelli, ihren Kisten bauenden Sohn Oskar und Monas Vater Tsarelli, der einst Diskuswerfer war. Wie Satelliten schweben um dieses Trio andere Familienmitglieder, Freund*innen und Ex-Freund*innen.

"Der Enkel bleibt. Zwei Beine, in den Boden gestemmt. Die Behauptung eines Waldes, einer hölzernen Bastion". (S. 70)

Da ist Oskars verstorbene Oma Ruth. Wie Mona war sie Künstlerin und ist weiterhin in vielen Situationen gegenwärtig.

"Ruths Platz war die Lücke, die sich zwischen ihnen auftat, waren Tsarellis umständlich hinterm Rücken verknotete Hände, war Monas neue Angewohnheit, die Speisekarte zu durchsuchen, nach Gerichten, die Ruth bestellt haben würde." (S. 153)

Da ist Georgi, ein Freund von Tsarelli und russischer Schachmeister, der sich seine Frau Dina zurückwünscht. Da ist Oskars Freund Theo, der mit ihm Fussball spielt, aber sich eigentlich viel mehr um Oskar kümmert, als wirklich zu spielen. Da ist Valerie, die neue Freundin von Oskars Vater Eric, beide ebenfalls Künstler. Und da ist Johannes, der neue Freund von Mona, ein sehr akkurater Typ.

In kurzen Kapiteln, fast wie Musikstücke auf einem Album, erzählt die Autorin episodenhaft aus dem aktuellen Leben von Mona, Oskar und Co., aber auch aus der Vergangenheit: Wie Ruth zu ihrem Garten kam, wie Tsarelli und Georgi sich kennengelernt haben, wie Eric und Mona durch den Wald spaziert sind und wie Eric mit Valerie in die Badewanne stieg. Wie Oskar hundert Kisten bauen will und damit die Luft einfängt und wie Georgi seine Dina zurückerobern will.

Ein Kosmos schönster Sprachbilder

Sie zeichnet darin sehr feinfühlig die einzelnen Personen, ihre Entwicklung und ihre Beziehungen und verwendet immer wieder wunderbare Sprachbilder, die ich so noch nie gelesen habe. Dabei mäandert die Erzählstimme fliessend vom einen Kopf in den nächsten und bringt uns so alle Protagonist*innen ganz nah. Zum Beispiel, wenn sich Oskar Gedanken über die Erwachsenen macht:

"Erwachsene wollen immer aufräumen, Räume und Gedanken. Dabei sollten sie sich lieber um sich selbst kümmern, da gäbe es einiges zu tun." (S. 78)

Oder über Ideen:

"Einige Ideen, denkt er, sind vielleicht nur als Ideen gut. Die Realität ist wie ein Schmirgelpapier, sie schleift an den Träumen und Ideen herum. Und am Ende bleibt nur ein kleiner hölzerner Klotz." (S. 176)

Oder wenn Erics neue Freundin sich Gedanken über ihre Beziehung macht:

"Die Tasse steht bereits auf dem Küchentisch, ihr Henkel ragt in den Raum wie eine Frage, auf die Valerie keine Antwort findet." (S. 87)

Oder wenn Tsarelli über Gewohnheiten nachdenkt:

"Er musste an die lauwarme Vereinsdusche denken, wie gewöhnlich der Tag begonnen hatte. Sein Sport und Ruths Ausschlafen. Bis das Gewöhnliche eine unerwartete Biegung genommen hatte, die Abläufe durcheinanderwirbelte und Georgi in ihrer Küche abstellte." (S. 121)

Oder über Pausen:

"Dass auf etwas ein anderes folgen muss, ist ein Irrtum, manchmal leistet sich die Welt eine Pause." (S. 248)

Von der Handlung möchte ich an dieser Stelle gar nicht mehr verraten. Dafür müsst ihr dieses wunderbare Debüt von Marie-Alice Schultz selber lesen!

Tolle Buchgestaltung

Das Buch aus dem Rowohlt Verlag gefällt mir auch gestalterisch. Vom Umschlag, über das Vorsatzpapier mit den wild auf Brettern verteilten Kapitel und Seitenzahlen, bis zu den kleinen Illustrationen am Anfang und Ende des Buches.

Fazit

Marie-Alice Schultz ist mit "Mikadowälder" ein wunderbarer Debütroman gelungen: Luftig leicht und doch geerdet. Episodenhaft, holzig, klangvoll. Eine Schmuckkiste voller schönster Sprachbilder. Mit verschrobenen, eigenwilligen, angeknacksten und doch so liebenswerten, fantasie- und hoffnungsvollen Personen und spannenden Beziehungen. Für mich eine tolle Neuentdeckung, deren Blätterwald hoffentlich noch um viele, viele Buchseiten wächst!

PS: Einen tollen Eindruck vom Buch vermittelt auch die Lesung von Marie-Alice Schultz bei 1Live Stories (nur noch bis 25.05.2020 online verfügbar, Stories gibt's auch als Podcast!).

Die Fakten

Mikadowälder, Marie-Alice Schultz, Rowohlt, 2019

Marie-Alice Schultz

Rowohlt Verlag

320 Seiten

Hardcover

Erschienen am 16.04.2019

ISBN: 978-3-498-06557-7

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Buchtipp MINT & MALVE: Mikadowälder, Marie-Alice Schultz, Rowohlt, 2019

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