Das Lied des Propheten
Paul Lynch hat für seinen dystopischen Roman "Das Lied des Propheten" den Booker Prize 2023 gewonnen. Ob das hier eine Hymne oder ein Abgesang auf das Buch wird? Lest selbst!
Paul Lynch nimmt uns in "Das Lied des Propheten" mit nach Dublin. Allerdings ein sehr düsteres Dublin in einer unbestimmten Zukunft. Ein Dublin, wie es sein könnte, wenn eine totalitäre Macht das Sagen hat.
Eines Tages taucht die Polizei, genannt Gardaí, bei Eilish Stack auf. Ihr Mann Larry solle im Revier anrufen. Auf Druck seiner Frau tut er es und wird sofort einbestellt. Sie legen ihm eine Beschuldigung vor. Im Rahmen seiner Arbeit als stellvertretender Generalsekretär der Lehrergewerkschaft soll er irgendetwas Unrechtes getan haben. Larry ist aber sicher, dass die Beschuldigung fingiert ist. Sie wollen einfach nicht, dass die Gewerkschaft streikt. Vorerst kommt Larry wieder auf freien Fuss.
Doch Irland wird mehr und mehr zum Polizeistaat, die Gardaí und ihr parteipolitischer Arm, die National Alliance, haben ihre Leute überall. Ehemalige Freunde tragen plötzlich ein Parteiabzeichen, andere Gewerkschafter werden verhaftet, weniger geeignete Arbeitskolleg:innen werden befördert, junge Rebellen verschwinden spurlos. Und schliesslich schnappen sie sich an einer Demonstration auch Larry.
Eilish muss sich unter immer schwierigeren Bedingungen mit vier Kindern - vom Kleinkind bis zum 16-jährigen Teenager - alleine durchschlagen. Und sie ist wild entschlossen, Larry da irgendwie wieder rauszuholen. Doch sie bekommt keinerlei Zugang zu ihm. Freund:innen und Verwandte raten ihr, das Land zu verlassen, nach Kanada zu ihrer Schwester Áine zu gehen. Doch Eilish weigert sich, sie will nicht weg von ihrem dementen Vater und vor allem nicht von Larry. Kommt dazu, dass sie erfolglos versucht, für ihre Söhne Ben und Mark Pässe zu kriegen. Man lässt sie einfach auflaufen, verweigert ihr die Pässe.
Paul Lynch schildert sehr gut die Ohnmacht, die ein wachsender Polizeistaat hervorruft, der einem alle Freiheiten nimmt. Denkt man gleichzeitig an die Geschichte, was sich in totalitären Staaten weltweit aktuell abspielt und was mit dem Erstarken rechtsradikaler Parteien in vielen europäischen Ländern am Horizont droht, wird einem beim Lesen sehr unheimlich. Eine Bekannte und Verbündete von Eilish drückt es so aus:
"...wie genial die das machen, die nehmen dir was weg und ersetzen es durch Stille, und dann siehst du dich in jedem wachen Moment dieser Stille gegenüber und kannst nicht leben, du hörst auf, du selbst zu sein, und wirst durch diese Stille zu einem Ding, (....) aber die Stille nimmt eben kein Ende, weißt du, die lassen die Möglichkeit offen, dass dir das, was du willst, eines Tages zurückgegeben wird, und so bleibst du klein, gelähmt, stumpf wie ein altes Messer, und die Stille endet nicht, denn die Stille ist die Quelle ihrer Macht, das ist ihre heimliche Bedeutung." / S. 117
Eilish kämpft und hofft immer weiter, glaubt trotz allem ans System, später an die Weltgemeinschaft, die schon eingreifen wird. Doch sie verliert mehr und mehr. Wie es ihr, ihren Kindern und Larry sowie ihrem Vater weiter ergeht, möchte ich natürlich nicht spoilern.
"...das dauert nicht mehr viel länger, wir leben doch nicht in irgendeiner finsteren Ecke der Welt, die internationale Gemeinschaft wird eine Lösung aushandeln, gerade laufen Gespräche in London, so läuft das halt, erst gibt's ernste Warnungen, dann Sanktionen, und wenn die Sanktionen nichts bewirken, holen sie alle an einen Tisch, die handeln jetzt täglich eine Waffenruhe aus." / S. 120
Gefallen hat mir über weite Strecken die Formulierung als eine Art "Stream of Consciousness", aber in der dritten Person. Anfangs nimmt Paul Lynch auch unterschiedliche Perspektiven, später erleben wir das Geschehen fast nur noch durch die Augen von Eilish. Manchmal etwas verwirrend ist, dass die direkte Rede nicht gekennzeichnet ist und so teils unklar bleibt, wer nun genau was sagt. Obwohl die Anlage des Buches spannend und das dystopische Szenario sehr bedrückend ist, konnte der irische Autor die Spannung nicht über den ganzen Roman halten. Im Gegensatz zu anderen Leser:innen hat mich auch die hochgelobte Emotionalität nicht erreicht. Eilish als zentrale Figur blieb immer auf Distanz, ihre Entscheidungen waren für mich nicht nachvollziehbar. Auch das Ende war mir zu abrupt und hinterliess zu viele lose Fäden.
Schliesslich schien mir die Übersetzung von Eike Schönfeld nicht überall ideal, was aber auch an meiner Vorabversion als E-Book liegen kann. Wenn "Molly ihr Handy liest", die "Maschine Kaffee brummt" und mehr als einmal jemand ein "geschmerztes Lächeln" lächelt, finde ich das etwas gewollt, vielleicht ist es auch altbacken?
Alles in allem finde ich das Worldbuilding von Paul Lynch gut, aber die Figuren zu wenig plastisch und einige Fäden im Roman zu lose geknüpft. Insofern finde ich die Lektüre durchaus lohnenswert, kann aber die Auszeichnung mit dem Book Prize 2023 nicht ganz nachvollziehen. Da würde ich mich über einen Sieg von "James" von Percival Everett, der dieses Jahr auf der Shortlist steht, deutlich mehr freuen.
Fazit
Wer Lust auf dystopischen Stoff in eindringlichem Erzählton und in speziellem Stil hat, der könnte an "Das Lied des Propheten" von Paul Lynch gefallen finden. Wie Eilish, einer etablierten Akademikerin mit Mann und vier Kindern, durch ein autoritäres System der Boden unter den Füssen weggezogen wird, ist leider nur allzu realistisch.
Die Fakten
Paul Lynch
Eike Schönfeld (Übersetzung aus dem britischen Englisch)
Klett-Cotta
320 Seiten
Erschienen am 12.07.2024
Hardcover
ISBN: 978-3-608-98822-2
PS: Herzlichen Dank an NetGalley DE und an Klett-Cotta für das digitale Rezensionsexemplar. Die Seitenangaben beziehen sich auf das E-Book und können von der Printversion abweichen.
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