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James - eine Neuerzählung von "Huckleberry Finn"

Percival Everett erzählt in seinem neuen Roman "James" den alten Klassiker "Huckleberry Finn" neu. Durch die Linse des Sklaven Jim erscheinen die Abenteuer am Mississippi in ganz neuem Licht!




Erzählte Mark Twain "Die Abenteuer des Huckleberry Finn"* aus der Perspektive eines weissen Jugendlichen, nimmt sich der Afroamerikanische Autor Percival Everett den Abenteuern am Mississippi aus der Perspektive des Sklaven Jim (später James) an. Der Sidekick steigt auf zum Hauptdarsteller - ein eigentlich längst überfälliger Rollenwechsel! Mit dem neuen Ich-Erzähler tritt der Blick eines Schwarzen, versklavten Menschen in den Mittelpunkt, womit auch die Sklaverei, Rassismus und die Schwarze Identität stärker in den Fokus rücken als in Twains Vorlage. Bei Letzterer ist bis heute umstritten, ob sie nun antirassistisch oder rassistisch ist (vgl. Wikipedia-Artikel).



Fotos: Eliane Fischer, 2024. Im Hintergrund zu sehen ist das "American House" in McGregor, Iowa, in dem einst Mark Twain abgestiegen sein soll.


Bei Percival Everett startet die Geschichte 1861, kurz vor dem amerikanischen Bürgerkrieg, damit, dass Jim, Haussklave von Miss Watson, erfährt, dass er verkauft werden soll. Und das ohne seine Frau Sadie und seine Tochter Lizzie. Also flüchtet er sich auf eine Insel im Mississippi, mit der Absicht, später Frau und Tochter zu holen und gemeinsam in die Freiheit (also in die nördlichen Staaten ohne Sklaverei) zu fliehen.


"Ich empfand ebenso viel Zorn wie Angst, aber wo soll ein Sklave hin mit seinem Zorn? Wir konnten aufeinander zornig sein; wir waren Menschen. Aber gegen die eigentliche Ursache unserer Wut war nicht anzukommen, sie musste hinuntergeschluckt, unterdrückt werden." / S. 39

Einige Tage später täuscht Huck seinen eigenen Tod vor, um seinem gewalttätigen Vater und der Kontrolle von Miss Watson und Richter Thatcher zu entkommen. Auch er flüchtet sich auf Jackson Island und trifft auf Jim, mit dem er ein freundschaftliches Verhältnis pflegte. Fortan kämpfen sie sich gemeinsam durchs Leben - zuerst durch ein gewaltiges Unwetter und dann auf einem Floss den Mississippi hinunter.


Percival Everett lässt Jim gegen aussen im Slang der Sklaven sprechen. Allerdings ist diese besondere Ausdrucksweise nur vorgespielt, um die Weissen im Glauben zu lassen, sie seien klüger und den Schwarzen auch moralisch überlegen. Unter einander sprechen Jim und die anderen Sklav*innen ganz normales Englisch. Jim unterrichtet sogar die Schwarzen Kinder im Lesen und Schreiben, das er sich heimlich selbst angeeignet hat. Nikolaus Stingl hat den Slang grandios ins Deutsche übertragen, indem er einen ganz eigenen "Dialekt" kreiert hat.


"Entweder sie bindich an Fosten und peitschen dich aus, oder sie schleppm dich runter an Fluss und verkaufm dich. Nix, wo du dir Sorgen drüber machen muss." / S. 20

Das sagt Jim zu seinem jugendlichen Freund, ja gar Schützling, Huck, um zu erklären, was passieren würde, wenn er nicht alle ihm übertragenen Aufgaben rund um Miss Watsons Haus umgehend zufriedenstellend erledigen würde.


Auf ihrer Flucht haben sie nicht nur mit den Gefahren des Mississippi zu kämpfen, sondern kriegen es mit Gaunern zu tun, treffen andere Sklav*innen, müssen sich dauernd verstecken und doch vorwärtskommen. Unterwegs begegnen sie auch Minstrels, also Sängern, die Blackfacing betreiben und zur Belustigung des weissen Publikums Sklavenlieder, oder was sie dafür halten, imitieren. Jim wird absurderweise vom Trupp aufgenommen und muss jetzt einen Weissen spielen, der einen Schwarzen spielt - ein doppeltes und damit sehr gefährliches Versteckspiel!


"Und dennoch, trotz all dieser Lauferei, erschien uns kein Ort wie ein neuer Ort. Vielleicht war das das Wesen der Flucht." / S. 237f.

Jims bzw. James' Abenteuer - mal mit Huck, mal ohne - werfen ihn und damit auch uns als Leser*innen immer wieder auf die Frage nach seiner Identität zurück. Wer oder was bestimmt die Identität? Welche Folgen hat das Schwarzsein für Jims Leben in den Südstaaten und ebenso in den vermeintlich von der Sklaverei befreiten Staaten? Was bedeutet der amerikanische Bürgerkrieg für ihn? Percival Everett schafft es, sich diesen Fragen mit viel Sprachwitz, Humor und bissiger Ironie anzunehmen. Als Jim und Huck einander nach einer Weile der Trennung wiederfinden und sich ihre Beziehung verändert - wie sei an dieser Stelle nicht verraten - treibt Percival Everett die Frage nach der Identität auf die Spitze.



Tief verankerter Rassismus

Leser*innen wird durch die Lektüre nochmals besonders deutlich und eindringlich vor Augen geführt, was Rassismus und Sklaverei bedeuteten und auch bis in die aktuelle Zeit hinein bedeuten (Stichworte: white privilege, white supremacy, white saviorism). Die psychische und physische Gewalt gegen Schwarze (von Mikroaggressionen bis hin zu Lynchmorden) mag ein krasses Thema sein und Everett spart es auch nicht aus. Es gelingt ihm aber, "violence porn" zu vermeiden.


Die Erzählung wird durch die Mark Twain entlehnten Handlungen vorangetrieben. Manches scheint dadurch auch etwas gar zufällig oder "zu einfach", aber Percival Everett unterfüttert die Jugendroman-hafte Handlung mit Jims bzw. James' philosophischen Überlegungen. Und was aus der Perspektive von Huck vielleicht lustige Abenteuer sind, wird aus Schwarzer Perspektive zum puren Überlebenskampf, durchwoben mit den grossen moralischen Fragen, was Freiheit tatsächlich bedeutet und welche Mittel zur Befreiung legitim sind.


"Weisse verbrachten häufig Zeit damit, sich dafür zu bewundern, dies oder jenes überlebt zu haben. In meinen Augen lag das daran, dass sie sehr oft gar nicht überleben, sondern nur leben mussten." / S. 287

Hinzu kommt, dass James gebildet ist, lesen und schreiben kann, und sich im Verlauf des Romans nicht nur schreibend selbst definiert und befreit, sondern auch wortwörtlich - und hier weicht Everett in entscheidenden Elementen von seiner literarischen Vorlage ab. Wie er das macht, müsst ihr euch unbedingt selber erlesen!


"Mit meinem Bleistift schrieb ich mich ins Dasein. Ich schrieb mich ins Hier." / S. 101

Um nochmals auf die Übersetzung von Nikolaus Stingl zu sprechen zu kommen: Er verwendet das N-Wort und schreibt es aus. Da habe ich mich natürlich gefragt, ob diese Reproduktion rassistischer Fremdbezeichnungen wirklich nötig ist. Andererseits hat Percival Everett sie als Schwarzer Autor so verwendet. Insofern halte ich es für gerechtfertigt, würde sie als weisse Rezipientin aber nicht reproduzieren und es bevorzugen, wenn es im Buch kommentiert und irgendwie markiert würde (z.B. durch Kursiv- und Kleinschreibung). Zu diesem Thema empfehle ich euch auch die Folge 50 vom Podcast "My PoC Bookshelf" von Georgina Fakunmoju, wo sie mit der Übersetzerin Melody Makeda Ledwon übers Übersetzen Schwarzer Autor:innen spricht.


"James" von Percival Everett ist für den Booker Prize 2024 nominiert (die Shortlist wird am 16. September 2024 bekanntgegeben, der*die Gewinner*in am 12. November).


Fazit

Mit "James" hat Percival Everett nicht nur Mark Twains "Huckleberry Finn" auf den Kopf gestellt, sondern definiert die Great American Novel neu - aus Schwarzer, aus marginalisierter Perspektive. Eine Lektüre, die vor Freude an der Sprache sprudelt, den Schwarzen Jim bzw. James zum Akteur macht, der sich ins Leben schreibt und in die Freiheit kämpft, und die den literarischen Kanon um ein #ownvoices-Juwel erweitert!


Zum Abschluss einige Impressionen vom Mississippi in der Region um Wyalusing, Wisconsin.


Fotos: Eliane Fischer, 2024.



Die Fakten

Percival Everett

Nikolaus Stingl (Übersetzung aus dem amerikanischen Englisch)

Hanser

336 Seiten

Erschienen am 17.03.2024

Hardcover mit Schutzumschlag und Leinenbändchen

ISBN: 978-3-446-27948-3




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