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Digitaler Kolonialismus

  • Autorenbild: Eliane Fischer
    Eliane Fischer
  • vor 2 Stunden
  • 5 Min. Lesezeit

Was haben digitale Technologien mit Kolonialismus zu tun? Sehr viel, wie Ingo Dachwitz und Sven Hilbig in ihrem Sachbuch "Digitaler Kolonialismus" aufzeigen. Eins wird bei der Lektüre klar: Indem wir - wie ich jetzt - täglich mit digitalen Tools arbeiten, sind wir auch Teil kolonialer Mechanismen und tragen eine Mitverantwortung für die marginalisierten Menschen und die Umwelt, die darunter leiden.


Digitaler Kolonialismus - Ingo Dachwitz, Sven Hilbig (C.H. Beck 2025)

Aktuell hat man schnell den Eindruck, dass Künstliche Intelligenz den digitalen Raum und praktisch all unsere Lebensbereiche auf den Kopf stellt. Doch trotz dieses rasanten Wandels gibt es einige Konstanten, die am Ende auf eines hinauslaufen: die Ausbeutung des Globalen Südens. Es sind die bekannten Muster von Kapitalismus, Patriarchat und Kolonialismus, denen der Tech-Journalist Ingo Dachwitz und der Globalisierungsexperte Sven Hilbig in ihrem Sachbuch "Digitaler Kolonialismus" auf die Spur gehen.


"Formell gehört der Kolonialismus heute zwar der Vergangenheit an, doch prägt er unsere Welt bis heute." / S. 16

Die Autoren zeigen eindrücklich, wie sich koloniale Muster bis heute durchziehen und u.a. von Tech-Konzernen, aber auch von Staaten zur eigenen Bereicherung vorangetrieben werden. Während sie gleichzeitig das Heilsversprechen der digitalen Revolution als Lockmittel vor sich hertragen.


Dachwitz und Hilbig steigen denn auch mit dem aktuellen Thema der Künstlichen Intelligenz ins Thema ein und erklären, wer vom Ausbau der Sprachmodelle (LLMs = Large Language Models), die hinter Tools wie ChatGPT stecken, profitiert und wie dabei Arbeiter:innen des Globalen Südens* ausgebeutet werden. In weiten Teilen geht es hier auch um soziale Netzwerke (unabhängig von AI) und die Content Moderation, also digitale Angebote, die sich schon lange vor AI etabliert haben, aber sich dadurch nochmals verändern - Stichwort Deepfakes, Bots, personalisierte Algorithmen (und damit auch Werbung) etc.


*"Dabei ist es wichtig, im Kopf zu behalten, dass es den einen Globalen Süden als homogene Masse nicht gibt. Vielmehr werden unter dem Begriff zahlreiche unterschiedliche Menschen, Regionen und Länder mit vollkommen unterschiedlichen politischen Systemen, Kulturen und Ökonomien zusammengefasst." / S. 24

Diese Einblicke sind schon sehr erschütternd, auch wenn sich die Autoren aufgrund mangelnder quantitativer Daten (welche Ironie) und Geheimhaltung seitens der Tech-Firmen stark auf anekdotische Evidenz, Berichte von Betroffenen und Schätzungen verlassen müssen.


Im Folgenden geht es darum, wie Tech-Konzerne immer und überall Daten abschöpfen (extraktivieren) und zu ihrer Bereicherung nutzen, wie zum Beispiel die Landwirtschaft - angeblich mit besten Absichten für die Landwirt*innen und die Umwelt - digitalisiert und dadurch abhängig gemacht wird von einem Netz aus Tech-Firmen, Saatgut- und Pestizidherstellern.


Vom Kobalt- und Lithiumabbau bis zur digitalen Überwachung

Ebenfalls eindrücklich und sehr bedenkenswert ist, wie die Ressourcen des Globalen Südens ausgebeutet werden - für jedes unserer digitalen Geräte genauso wie für die explodierende Anzahl an Datacenters, um die immer grösseren und komplexeren KI-Tools zu trainieren und deren Betrieb zu ermöglichen. Hier erfährt man sehr viel über den Kobalt-Abbau in der Demokratischen Republik Kongo und den Lithiumabbau in Südamerika. Apropos Lithiumabbau in Südamerika kann ich euch auch den Podcast böll.fokus der Heinrich Böll Stiftung empfehlen. In jüngster Zeit liest man auch viel über die KI-Blase (AI Bubble), die wie die dotcom-Blase vielleicht bald platzen könnte. Ein guter Überblicksartikel ist zum Beispiel im Tagesspiegel zu finden. Ich bin sicher, das Thema wird auch weiterhin die Tagespresse prägen.


Im weiteren gehen die Autoren auf das Geschäft mit Zensur, Überwachung und Kontrolle (ein zweischneidiges Schwert), auf die Infrastruktur aus Unterseekabeln und Internetsatelliten sowie auf die Geopolitik im digitalen Bereich ein und beleuchten schliesslich den digitalen "Dritten Weg" Europas kritisch. Erschreckend fand ich insbesondere, wie Entwicklungs- und Forschungsprojekte der EU missbraucht werden. Einerseits, um den Globalen Süden noch abhängiger zu machen vom Globalen Norden, und andererseits, um gerade deshalb entstehende Migrationsströme zu verhindern - ohne Rücksicht auf Menschenrechte. Hierzu gäbe es unendlich viel zu sagen (ich habe mir fast 20 Seiten Notizen gemacht), aber ich wüsste gar nicht, wo anfangen und wo aufhören. Deshalb empfehle ich euch einfach, "Digitaler Kolonialismus" selber zu lesen.


Es ist ein leicht lesbares und anschaulich geschriebenes Sachbuch für alle, die hinter das System "Digitaler Kolonialismus" blicken wollen. Für alle, die verstehen wollen, weshalb Künstliche Intelligenz nicht einfach ein "lustiges" Werkzeug ist, wie Big Tech und Autokratien sich verbrüdern (ja, es sind hauptsächlich Männer) und dabei vor keiner Form der Ausbeutung zurückschrecken. Und für alle, die wissen wollen, weshalb sich insbesondere privilegierte, weisse Menschen - und noch mehr Männer - des Globalen Nordens Gedanken über den Umgang mit digitalen Technologien machen sollten. Egal, ob es nun ums nächste Smartphone, die hundertste ChatGPT-Abfrage oder in den nächsten Wahlen oder Abstimmungen um Asylpolitik geht. Es hängt alles zusammen.


Vision und Verantwortung zum Abschluss

Das mag etwas deprimierend sein, aber da müssen wir durch, wenn wir wollen, dass Renata Ávila Pintos Nachwort "Wider den digitalen Kolonialismus" wahr wird und Student:innen im Jahr 2050 in einer Zeitkapsel aus den 2020ern lesen können:


"Die Vision von einer gerechteren Zukunft ließ sich damals nur durch signifikante Veränderungen und mutige Entscheidungen verwirklichen, die den Menschen und dem Planeten die höchste Priorität und damit auch Vorrang vor den Interessen einer privilegierten Minderheit einräumten." / S. 303

Damit das möglich wird, müssen wir laut den Autoren in Wirtschaft und Politik umdenken und Digitalisierung so gestalten, dass sie nicht einigen wenigen, sondern allen Menschen dient. Dafür müssen wir uns wiederum bilden und dann erstmal bei unserem eigenen Konsum- und Nutzungsverhalten anfangen. Tipps, wie ihr das angehen könnt, findet ihr im Buch oder auch auf netzpolitik.org. Und natürlich muss neben dieser individuellen Ebene auch eine kollektive, politische Aktion folgen, wofür wir wiederum Bündnisse schliessen und entsprechende Organisationen unterstützen sollten.


Zum Schritt der Bildung bietet "Digitaler Kolonialismus" selbst eine sehr gute Grundlage und zudem über das ausführliche Quellenverzeichnis zahlreiche Hinweise auf weiterführende Literatur, Forschende und Aktivist:innen in diesem Bereich.



Die Fakten

Ingo Dachwitz, Sven Hilbig

C.H. Beck Verlag

351 Seiten

Erschienen am 20.02.2025

Hardcover

ISBN: 978-3-406-82302-2





PS: Herzlichen Dank NetGalley Deutschland und an den C.H. Beck Verlag für das digitale Rezensionsexemplar. Die Seitenzahlen beziehen sich auf die elektronische Variante und können von den Zahlen der Printversion abweichen.



Mehr zu Künstlicher Intelligenz bei mint & malve

Mein hauptsächlicher Zugang zum Thema Künstliche Intelligenz sind Bücher und Buchschaffende. Mehr über die Problematik von generativer KI im Buchbereich erfahrt ihr auf Instagram unter dem Hashtag #BuchBrauchtMensch, auf dem Account @buchbrauchtmensch und in meinem Blogartikel zur gleichnamigen Flashmob-Aktion.



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