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Frauen Literatur. Abgewertet, vergessen, wiederentdeckt.

Nicole Seifert widmet sich in ihrem Sachbuch "Frauen Literatur. Abgewertet, vergessen, wiederentdeckt." den weiblichen Stimmen der Literatur. Den Stimmen, die bis heute weniger publiziert, weniger rezipiert, weniger gelesen werden. Und - so viel sei verraten - das liegt nicht an der Qualität!


Frauen Literatur - Nicole Seifert (KiWi Verlag 2021)

Man könnte ja meinen, bei der Wahl seiner Lektüre sollte man sich einzig und alleine nach der Qualität richten. Die Untervertretung der schreibenden Frauen in der Literatur auf allen Ebenen wäre dann einfach die Folge davon, dass Frauen entweder nicht schreiben wollen oder es nicht so gut können wie ihre männlichen Pendants. Die Auswahl nach dem alleinigen Merkmal der Qualität klingt erst einmal gut und wäre in einer idealen Welt vielleicht sogar sinnvoll. In der patriarchalen Welt, in der wir leben, ist es aus verschiedensten Gründen falsch. Zusammenfassend lassen sich zwei Hauptgründe nennen:


  1. Frauen und ihre Literatur werden abgewertet, weniger beachtet als Autoren und "aktiv" vergessen.

  2. Frauen schreiben mit derselben Qualität wie männliche Autoren, aber sie nehmen andere Perspektiven ein.


Abgewertet und vergessen

Nicole Seifert beim Salon der Republik im Literaturhaus Zürich (September 2021), Foto: Eliane Fischer
Nicole Seifert beim Salon der Republik im Literaturhaus Zürich (2021), Foto: Eliane Fischer

Beiden Gründen geht Nicole Seifert in ihrem Sachbuch gut verständlich und flüssig zu lesen nach. Sie geht dabei von ihrer eigenen Lesebiografie aus, die stark männlich geprägt war - sowohl, was die Schullektüre anging, als auch das heimische Bücherregal. Als ihr das so richtig bewusst wurde, entschloss sie sich, einige Jahre nur noch Autorinnen zu lesen und sie hat es nicht bereut. Im Gegenteil: Daraus entstand nicht nur ihr Blog Nacht und Tag, sondern auch das vorliegende Buch.


Nicole Seifert zeichnet schön nach, dass Frauen zwar lange weniger gebildet waren und es schwerer hatten zu schreiben, dass es aber immer Frauen gab, die trotz aller Widerstände schrieben. Woran liegt es, dass sie in Vergessenheit gerieten? Seifert sieht verschiedene Gründe: So werden Frauen weniger besprochen und wenn, wird viel häufiger auf Ausserliterarisches eingegangen - zum Beispiel das Äussere oder die Familienverhältnisse der Schriftstellerin. Wer sich ein paar Beispiele wünscht, suche einfach mal auf Twitter nach dem Hashtag #dichterdran und findet Tausende satirische Tweets, die den Spiess umkehren und Autoren und ihr Werk so beschreiben, wie es Autorinnen oft widerfährt.


Wie Seifert weiter ausführt, werden Schriftstellerinnen werden auch schlechter kontextualisiert und kanonisiert. Auch in der Zeit des Erscheinens durchaus erfolgreiche Bücher werden später oft nicht mehr aufgelegt, schlimmstenfalls nicht mal archiviert. Und schliesslich werden Autorinnen weniger erforscht und es wird weniger an Universitäten über sie gelehrt.


"Dass immer wieder dieselben wenigen Titel genannt und dadurch in ihrer Bedeutung übersteigert werden, ist eine traurige Einengung der Auseinandersetzung mit Literatur." (S. 52)

Gibt es weibliches Schreiben?

Rein ästhetisch betrachtet, lässt sich weibliches nicht von männlichem Schreiben unterscheiden. So sind Frauen auch nicht per se besser in bestimmten Genres. Und sie gehen auch nicht anders mit Sprache um als Männer. Was sich jedoch unterscheidet, sind die Inhalte, da Frauen unter ganz anderen Bedingungen leben und diese Perspektive sich in ihrem Schreiben widerspiegelt.


Und damit kommen wir zum zweiten Punkt: den weiblichen Perspektiven und weshalb sie so wichtig sind:


"Mehr Literatur von Frauen zu lesen, von Schwarzen Menschen, von People of Color, von queeren und anderen marginalisierten Menschen wird an sich nichts an den beschriebenen strukturellen Missständen ändern. Aber es ist eine sehr gute Möglichkeit, das Bewusstsein für Ungerechtigkeiten und Schieflagen zu entwickeln oder zu schärfen. Deshalb ist es eben nicht egal, ob ein Buch von einem Mann oder einer Frau geschrieben wurde, von einer nicht binären Person, von einer Schwarzen oder einer weissen." (S. 57)

Im Folgenden bietet uns Nicole Seifert eine eigentliche weibliche Literaturgeschichte, geht auf die Lebensumstände (und damit die Perspektiven) von Autorinnen ein, zeigt Traditionslinien weiblichen Schreibens auf (z. B. das Phänomen des Eingeschlossenseins wie bei Marlen Haushofers "Die Wand") und macht deutlich, wie sozialkritisch das Schreiben der Schriftstellerinnen schon im 19. Jahrhundert war.


"... und auch bei der aktuellen hiesigen Kanondebatte geht es im Kern um Politisches. Denn sie verhandelt Fragen danach, wer mitreden darf, wem Gehör geschenkt wird, wer wem zufolge etwas zu sagen haben sollte und wer nicht." (S. 101)

Es gibt Hoffnung auf Besserung

Nicole Seifert zieht eine ganz schön ernüchternde Bilanz, was die Anerkennung weiblichen Schreibens angeht. Zum Glück lässt sie uns aber nicht mit den erdrückenden Zahlen und entlarvenden Beispielen für die Dominanz patriarchaler Strukturen im Literaturbetrieb hängen, sondern geht im dritten Teil des Buches auf positive Tendenzen sowie auf Strategien ein, um die Situation zu verbessern - von diverseren Verlagen und Jurys bis zu gemeinsamen Vergütungsregeln für Autorinnen und Autoren.


Fazit

Nicole Seifert zeigt in "Frauen Literatur. Abgewertet, vergessen, wiederentdeckt" eindrücklich auf, weshalb Autorinnen weniger verlegt, weniger rezipiert und schliesslich auch weniger gelesen werden. Sie deckt die patriarchalen Mechanismen im Literaturbetrieb auf und bietet gleichzeitig eine weibliche Literaturgeschichte, die nicht nur deutlich macht, welch wichtige Perspektiven uns ohne weibliches Schreiben entgehen, sondern vor allem auch ganz viel Lust macht auf: Frauen lesen. Und das solltet ihr tun! Zuerst mit Nicole Seiferts Buch über schreibende Frauen und dann mit Büchern von den schreibenden Frauen selbst.


Die Fakten

Nicole Seifert

Kiepenheuer & Witsch

224 Seiten

Erschienen am 09.09.2021

Hardcover

ISBN: 978-3-462-00236-2





Noch mehr schreibende Frauen entdecken


Wer nun neugierig geworden ist und nach "Frauen Literatur" gleich weiterlesen will, kann dies natürlich auf Nicole Seiferts Blog www.nachtundtagblog.de tun, die im Buch integrierte Leseliste zur Hand nehmen oder folgende Bücher lesen:







Ein Zimmer für sich allein - Virginia Woolf (Kampa 2020)

Ein Zimmer für sich allein - Virginia Woolf

Ein Klassiker nicht nur von einer schreibenden Frau, sondern auch über schreibende Frauen ist Virginia Woolfs "Ein Zimmer für sich allein". Ein Essay, der so prägnant auf die patriarchalen Strukturen eingeht, dass er zu einem Manifest der Frauenbewegung wurde.


Das Buch gibt es in verschiedenen Ausgaben, besonders gelungen finde ich die Pockets von Kampa in der Neuübersetzung von Antje Rávik Strubel - genau, die diesjährige Gewinnerin des Deutschen Buchpreises. Besonders nice: Die Kampa Pockets sind eine klimaneutrale Taschenbuchreihe!


Ein Zimmer für sich allein - Virginia Woolf, Kampa Verlag 2020, 192 Seiten, ISBN 978-3-311-15008-4


Schreibtisch mit Aussicht - Ilka Piepgras (Kein & Aber 2020)

Schreibtisch mit Aussicht - Ilka Piepgras (Hg.)

In "Schreibtisch mit Aussicht", herausgegeben von Ilka Piepgras, kommen die schreibenden Frauen selbst zu Wort. 24 Schriftstellerinnen geben einen Einblick in ihre Schreibarbeit, ihre Rituale, ihre Kämpfe. Mit dabei sind zum Beispiel Texte von Elif Shafak (mein Buchtipp), Mariana Leky (mein Buchtipp 1, mein Buchtipp 2), Meg Wolitzer, Eva Menasse, Deborah Levy oder Leïla Slimani.


Schreibtisch mit Aussicht. Schriftstellerinnen über ihr Schreiben - Ilka Piepgras (Hg.), Kein & Aber Verlag 2020, 288 Seiten, ISBN 978-3-0369-5826-2




Dichterinnen & Denkerinnen - Katharina Herrmann (Reclam 2020)

Dichterinnen & Denkerinnen - Katharina Herrmann

Wie Nicole Seifert erwähnt auch Katharina Herrmann in "Dichterinnen & Denkerinnen" Annette von Droste-Hülshoff als eine der wenigen bekannten Schriftstellerinnen aus der Zeit vor 1900. Zum Glück ist sie dann aber im Land der Dichter und Denker doch noch ein paar mal mehr fündig geworden und stellt uns 20 Frauen vor, die allen Widerständen zum Trotz geschrieben haben - egal ob Prosa, Lyrik oder journalistische Texte. Neben dem wunderbaren Cover hat Tanja Kischel auch für jede Autorin ein passendes Porträt beigesteuert.




100 Autorinnen in Porträts - Verena Auffermann, Julia Encke, Gunhild Kübler, Ursula März, Elke Schmitter (Piper 2021)

100 Autorinnen in Porträts. Von Atwood bis Sappho, von Adichie bis Zeh - Verena Auffermann, Julia Encke, Gunhild Kübler, Ursula März, Elke Schmitter


Einen riesigen Bogen schlagen die fünf Kritikerinnen in "100 Autorinnen in Porträts" - sie versammeln darin nämlich schreibende Frauen aus 2000 Jahren und von allen Kontinenten. Neben dem Weg zum Schreiben der jeweiligen Schriftstellerin geht es immer auch um ihre Lebensumstände und die Verortung ihres Werks in der Weltliteratur. Eine überbordende Liste zum Weiterlesen ist bei der Lektüre vorprogrammiert!



PS: Herzlichen Dank für die Rezensionsexemplare an KiWi, Kampa, Kein & Aber und Reclam.


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