Selbstbestimmt und doch zusammen
Mit "Ein Leben mehr" entführt uns Jocelyne Saucier in die Wälder Kanadas und erzählt davon, wie in der Einsamkeit zusammenfindet, was zusammengehört.

Das Glück liegt in der Einsamkeit
Der Roman beginnt damit, dass eine Fotografin auf der Suche nach Überlebenden der Grossen Brände im Norden Ontarios (anfangs 1900) viele Jahrzehnte später in die gut versteckte Einsiedelei von Tom, Charlie und Ted findet. Und genau diesen Ted oder Edward oder Ed (oder wie auch immer der Vorname lautet) Boychuck sucht die Fotografin für ihr Projekt.
"Selbst wer ihn nicht gekannt hatte und ihm nie begegnet war, erzählte von ihm. Ed, Ted oder Edward Boychuck - beim Vornamen war man sich nicht einig - ist das grosse Rätsel des Brandes von Matheson. Der Junge, der durch die rauchenden Trümmer irrte, so nannten ihn die meisten." (S. 73)
Genau dieser Ted - nennen wir ihn der Einfachheit halber so - ist aber vor Kurzem verstorben. Die beiden anderen Männer sind alles andere als begeistert vom Auftauchen der Fotografin und wimmeln sie vorerst ab.
"Man ist frei, meine Schöne, wenn man sich aussuchen kann, wie man lebt."
"Und wie man stirbt", ergänzte Charlie.
Die beiden brachen in schallendes Gelächter aus. (S. 25)
Charlie und Tom (und auch Ted) haben aus unterschiedlichen Gründen im Wald ihre Freiheit gesucht und gefunden. Sie haben sich neue Identitäten zugelegt und leben seither fernab der Zivilisation und von den Behörden unbehelligt in einfachen Hütten auf einer Lichtung. Versorgt werden sie von Bruno und Steve, die - mit illegalen Mitteln - dafür sorgen, dass das Geld nicht ausgeht, und die unliebsame Besucher*innen abwimmeln.
Das Blatt wendet sich
Die Fotografin kehrt jedoch zurück. Und eine weitere Frau stösst zu den Einsiedlern: Brunos 82-jährige Tante Gertrude, später Marie-Desneige genannt. Sie wurde vor über 60 Jahren von ihrem Vater in die Psychiatrie gesteckt, kam da nie mehr heraus und wurde von der Familie totgeschwiegen, bis nun ihr Neffe von ihr erfährt und beherzt eingreift.
"Die alte Dame mit dem luftigen Haar und den Fingern wie Spitzendecken wirkte zerbrechlich wie ein Vögelchen. Er [Charlie] hatte das Gefühl, er müsse nur einmal fest pusten und das Vögelchen würde von seinem Holzklotz fallen. Dieser Gedanke erschreckte ihn. Er wollte das Vögelchen nicht umpusten, er wollte es lieber vorsichtig zurück in sein Nest setzen. Dieser Gedanke erschreckte ihn noch mehr." (S. 91)
Wie das obige Zitat schon erahnen lässt, verändert sich die kleine Gemeinschaft mit den beiden weiblichen Mitgliedern grundlegend. Die beiden Frauen befördern überdies ein Geheimnis von Ted ans Licht und spüren so dessen Vergangenheit auf. Mehr möchte ich an dieser Stelle nicht verraten, damit die Spannung beim Lesen erhalten bleibt.
Interessante Erzähltechnik
Die frankokanadische Schriftstellerin Jocelyne Saucier hat ihren Roman spannend aufgebaut. Zuerst erfahren wir aus wechselnden Ich-Perspektiven von der Fotografin, von Bruno und Steve, wie sich die Einsiedelei und ihre Neukonstellation mit den beiden Frauen ergeben haben. Durchsetzt sind die Erzählstränge mit kurzen Einschüben eines auktorialen Erzählers. Zu Beginn fand ich das etwas merkwürdig, besonders da es sich inhaltlich wiederholt. Aber der ironische Stil dieser Einschübe gefiel mir und die Autorin schafft es damit, eine besondere Spannung aufzubauen. Die verschiedenen Erzählungen aus der Ich-Perspektive lassen Stück für Stück ein Bild der Situation entstehen und gehören für mich zum Stärksten des Buches. Im Folgenden wird dann nur noch von aussen erzählt, womit auch wir etwas distanzierter auf das Geschehen blicken. Teils finde ich das schade und unnötig, weil es auch die Akteur*innen selbst hätten erzählen können. Teils macht es aber durchaus Sinn, weil die Protagonist*innen nicht alles wissen können, was für die Geschichte relevant und besonders für den Clou am Ende essentiell ist.
Insgesamt mag ich, wie Jocelyne Saucier die Geschichte erzählt, wie wir die verschrobenen alten Herren, ihre Gehilfen, die Fotografin und die alte Dame kennenlernen, wie wir uns dabei Gedanken darüber machen, was im Leben (insbesondere im Alter) und beim Sterben wichtig ist. Saucier zeichnet die Charaktere sehr lebhaft, ironisch und doch einfühlsam. Zusammen mit der spannenden Geschichte mit dramatischen, traurigen und herzergreifenden Szenen und einem Clou am Ende ergibt sich ein sehr lesenswerter Roman, den ich in der Art noch nie gelesen habe.
Zwei ganz kleine Kritiken habe ich anzubringen: An mindestens zwei Stellen taucht im selben Abschnitt zweimal derselbe Wortlaut auf (z.B. einmal als Hauptsatz und kurz darauf als Nebensatz). Ein oder zwei Äusserungen fand ich klar frauenfeindlich. Und das ohne Not, denn sie wurden nicht etwa von frauenfeindlichen Personen geäussert, sondern von der Erzählstimme (also schlussendlich von einer Frau). Möglich, dass diese Fauxpas nicht der Autorin, sondern der Übersetzerin anzulasten sind. Das kann ich nicht beurteilen, weil ich die Passagen nicht mit dem Original verglichen habe.
Fazit
Jocelyne Saucier hat mit "Ein Leben mehr" einen einfühlsamen, teils tragischen, aber auch witzigen Roman darüber geschrieben, was ein selbstbestimmtes Leben (und Sterben) ausmacht und wie unterschiedlich verschiedene Menschen damit umgehen. Es ist eine Hommage an die Gemeinschaft, an den Zusammenhalte, an die Hilfsbereitschaft und die Liebe in jedem Alter. Ich kann den Roman sowohl notorischen Einzelgänger*innen als auch überzeugten Familienmenschen sehr empfehlen!
PS: Das Buch wurde 2019 unter dem Titel "Il pleuvait des oiseaux" verfilmt.
Die Fakten
Jocelyne Saucier
Sonja Finck (Übersetzung aus dem Französischen)
Insel Verlag
192 Seiten
Erschienen 2015 (als Hardcover)
ISBN: 978-3-458-36189-3 (Taschenbuch)
Like it? Pin it!
Magst du diesen Buchtipp? Dann freue ich mich sehr, wenn du den Pin dazu auf Pinterest teilst. Natürlich kannst du auch sonst in den Social Media oder im realen Leben drüber sprechen!