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Die Essenz des Menschseins

"Dankbarkeiten" von Delphine de Vigan ist einmal mehr ein kurzer, aber bewegender Roman. Die französische Autorin schreibt diesmal übers Alter und was uns am Ende bleibt.


MINT & MALVE Buchtipp: Dankbarkeiten - Delphine de Vigan, Dumont 2020

Warf Delphine de Vigan im sehr empfehlenswerten und ebenfalls hier besprochenen Roman "Loyalitäten" den Blick auf die Jugend, wendet sie sich im Nachfolger "Dankbarkeiten" dem Alter zu.


Wenn die Selbständigkeit verloren geht

Im Zentrum der Geschichte steht Michka (eigentlich Michèle) Seld, eine ältere Dame, die vor kurzem verstorben ist. Das ist kein Spoiler, denn damit beginnt die Ich-Erzählerin Marie das Buch. Marie ist eine junge Frau, die im selben Haus wohnte wie Michka und ihr viel zu verdanken hat. Was genau, erfahren wir erst im Verlauf der Geschichte. Auf jeden Fall hat sich Michka früher oft um Marie gekümmert. Marie ist es deshalb ein Bedürfnis, ihre Dankbarkeit auszudrücken, indem sie Michka zuhause und später im Altersheim umsorgt, so gut es geht.


Marie blickt im Buch zurück auf die letzte Zeit mit Michka. Wie klar wird, dass die alte Frau nicht mehr alleine zuhause leben kann. Wie sie mehr und mehr die Wörter verliert, Ängste entwickelt, nicht mehr aufstehen kann. Kurz: ihre Selbständigkeit verliert.


"Ich versuche, mich an den Tag zu erinnern, als mir klar wurde, dass etwas gekippt war, dass unsere Zeit von nun an bemessen sein würde." (S. 12)

Dass Michka immer mehr die Wörter fehlen, um sich klar auszudrücken bzw. so auszudrücken, wie sie es eigentlich möchte, ist besonders dramatisch, weil die kinderlose Frau einst Fotoreporterin und dann Korrektorin bei einer Zeitung war. Sie verdiente also ihren Lebensunterhalt mit Sprache, beherrschte sie bravourös, spielte mit ihr, liebt es, sich auszudrücken. Und nun ist das alles nicht mehr so möglich und das ist Michka durchaus bewusst. Sie realisiert, wie ihr die Sprache entgleitet, die Wörter sich immer mehr zurückziehen.


Von Jérôme, Michkas Logopäden im Heim und dem zweiten Ich-Erzähler, erfahren wir, dass es sich bei diesem Phänomen um Aphasie handelt. Das heisst, sie hat Schwierigkeiten beim Sprechen, ihr fallen die richtigen Wörter nicht mehr ein. Entweder lässt sie die Wörter einfach weg oder ersetzt sie durch andere, oft ähnlich klingende Wörter.


Dankbarkeit ausdrücken

Was Michka gegen Ende ihres Lebens am meisten beschäftigt, ist, dass sie zwei ganz besonderen Menschen - Nicole und Henri - ihre Dankbarkeit aussprechen möchte. Denn die beiden hatten sie für ein paar Jahre aufgenommen. Weshalb, erfahren die Leser*innen im Verlauf des Buches. Michka kann sich aber nur noch an die Vornamen erinnern und an das Dorf, in dem sie lebten. Marie möchte Michka diesen letzten Wunsch unbedingt erfüllen und unternimmt einen letzten Versuch, die beiden ausfindig zu machen.


Delphine de Vigan erzählt wie gewohnt in einfacher, reduzierter, aber gefühlvoller Sprache. Durch die Innenperspektiven und die vielen Dialoge, lässt sie uns ganz nah an ihre Protagonist*innen heran. Als Leser*innen beginnen wir, uns genau dieselben Fragen zu stellen, wie Marie und Jérôme im Buch. Wie wäre es für uns, alt zu sein und zu merken, dass uns langsam alles entgleitet. Was würden wir noch unbedingt tun wollen, wem danken, wen umarmen?


Was hinter der Geschichte mit Henri und Nicole steckt, darf ich hier natürlich nicht verraten, aber ich finde, das ist auch recht schnell durchschaubar. Entscheidend für die Güte des Romans ist viel weniger die Lüftung dieses Geheimnisses als vielmehr, wie Delphine de Vigan auf nicht mal 200 Seiten Charaktere zeichnet, die einem derart ans Herz wachsen und dabei en passant die grundlegendsten Fragen der Menschheit anspricht.


Fazit

Delphine de Vigan schält in ihrem Roman "Dankbarkeiten" heraus, was am Ende des Lebens zählt: Ich würde es als Menschlichkeit im weitesten Sinne bezeichnen. Sich als Teil der Gesellschaft zu fühlen, sich verstanden und aufgehoben zu wissen und denen gedankt zu haben, die in entscheidenden Momenten für einen da waren. Ein Buch, das trotz seiner Kürze lange nachhallt!



Die Fakten

Delphine de Vigan

Doris Heinemann (Übersetzung aus dem Französischen)

Dumont

176 Seiten

Erschienen am 10.03.2020

Hardcover

ISBN: 978-3-8321-8112-3


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Buchtipp MINT & MALVE: Dankbarkeiten - Delphine de Vigan, Dumont (2020)


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