Sibiro Haiku - Eine Graphic Novel aus Litauen
Aus Litauen habe ich wohl noch gar nie etwas gelesen, umso neugieriger war ich auf "Sibiro Haiku", eine Graphic Novel der Litauerinnen Jurga Vilė und Lina Itagaki. Die beiden machen darin eindrücklich die Verschleppungen von litauischen Familien in sibirische Arbeitslager während und nach dem Zweiten Weltkrieg zum Thema.
Jurga Vilė, die Autorin von "Sibiro Haiku", erzählt in dieser Graphic Novel die Geschichte ihres Vaters Algis Mielis, der im Zweiten Weltkrieg zusammen mit seinen Eltern, seiner Schwester und weiteren Verwandten von den sovjetischen Besatzern nach Sibirien deportiert wurde. Wie wir gleich zu Beginn erfahren, kehrten Algis und Dalia später mit dem "Zug der Waisen" nach Litauen zurück. Über die Schicksale der weiteren Kinder und Erwachsenen erfahren wir nach und nach mehr.
Lagerleben aus Perspektive eines Jugendlichen
Aus der Perspektive von Algis erleben wir diesen einschneidenden Lebensabschnitt hautnah mit. Eines Morgens 1941 wurde die ganze Familie einfach von zwei sovjetischen Soldaten zuhause abgeholt. Musste mit dem eigenen Pferd und Wagen zum Bahnhof fahren und wurde dann mit vielen weiteren Litauer*innen in Viehwaggons verfrachtet. Ziel waren Arbeitslager in Westsibirien. Der Vater wurde von der Familie getrennt.
In den Lagern mussten alle hart arbeiten, lebten in zugigen Baracken voller Läuse, hatten immer Hunger und wurden von den russischen Soldaten und vieler Menschen der Umgebung schikaniert. Algis stellt uns immer wieder einzelne Personen näher vor, so etwa seine Schwester Dalia, die sich psychisch mit Stricken über Wasser hält, Tante Petronella, die sich an ihre japanischen Haikus, Origami und das Singen klammert. Sowohl der Text als auch die Illustrationen von Lina Itagaki durchziehen viele magische Elemente, wie Algis' Ganter Martin, der eigentlich von den Soldaten erschossen wurde, aber doch immer wieder seine schützenden Flügel über dem Jungen ausbreitet.
Lina Itagaki hält ihre Illustrationen in gedeckten Farben, viel ist grau wie der Alltag der Deportierten. Durchzogen von farblichen Akzenten, etwa dem Rot für das fliessende Blut. Aber sie variiert auch sehr stark im Stil, mal gibt es Panels mit Sprechblasen, mal einzelne Szenen in Vignetten, dann wieder ganz- oder doppelseitige Illustrationen. Lina Itagaki hat auch das gesamte Handlettering übernommen (auch auf Deutsch).
Sehr eindrücklich ist es, wie die Menschen dem Martyrium begegnen und sich etwa mit mitgebrachten Apfelstückchen oder dem Singen litauischer Lieder aufzumuntern versuchen. Neben den Menschen, die ihre Macht über die litauischen Menschen gnadenlos ausnutzen, gibt es zum Glück auch einige liebe Menschen rund um das Lager, die den Deportierten helfen. Ja, sogar eine Liebesgeschichte entspinnt sich.
Vom Hunger zum Tod war es nur ein kleiner Schritt, aber vom Tod nach Litauen Tausende Meilen." (S. 114)
Ins Deutsche übersetzt wurde "Sibiro Haiku" von Saskia Drude. Das ist - ohne die litausische Version zu kennen - sehr gut gelungen. Algis hat eine ganz eigene Sprache, die einem Kind bzw. Jugendlichen seines Alters (etwa 13 Jahre alt) entspricht und viele wunderbare Sprachbilder enthält.
"Du wusstest immer, wie man das Leben unter den Füssen kitzelt." - Algis in einem Brief an seinen Vater (S. 125)
Mehr über die Übersetzung erfahrt ihr auf dem Blog von TraLaLit. "Sibiro Haiku" wurde 2021 mit dem Deutschen Jugendliteraturpreis ausgezeichnet.
Fazit
"Sibiro Haiku" von Jurga Vilė und Lina Itagaki ist eine ganz besondere Graphic Novel, die uns ein dunkles Kapitel der litauischen Geschichte näherbringt und definitiv Lust darauf macht, mehr aus den baltischen Staaten zu lesen.
Die Fakten
Jurga Vilė (Text)
Lina Itagaki (Illustration)
Saskia Drude (Übersetzung aus dem Litauischen)
Baobab Books
240 Seiten
Erschienen am 31.07.2020
Klappenbroschur
ISBN: 978-3-907277-03-4
Ab 14 Jahren
PS: Herzlichen Dank an Baobab Books für das Rezensionsexemplar.
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