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Beduinenmilch

  • Autorenbild: Eliane Fischer
    Eliane Fischer
  • vor 32 Minuten
  • 4 Min. Lesezeit

"Beduinenmilch" von Nirit Sommerfeld ist für mich nicht nur DER aktuelle Roman zum Nahost-Konflikt, sondern auch ein Jahreshighlight. Aus der Perspektive einer jungen Deutsch-Israelin setzt sich die Autorin kritisch mit Gegenwart und Vergangenheit jüdischen Lebens in Israel bzw. Palästina um. Gekonnt verbindet sie eine persönliche Entwicklungs- und Familiengeschichte mit den grösseren geschichtlichen und politischen Verwerfungen.


Buchcover: Beduinenmilch - Nirit Sommerfeld (ars vivendi 2025)


Talia, die Ich-Erzählerin in "Beduinenmilch" ist bald 18 Jahre alt und reist nach Israel, in ihre zweite Heimat. Oder vielleicht ist es sogar ihre wahre Heimat? Jedenfalls fühlt sie sich in Tel Aviv rund um ihre weitverzweigte Familie fast mehr zuhause, aufgehoben und geliebt als in Deutschland bei ihren Eltern.


Talia hat in Israel Grosses vor. Niemand, nicht einmal ihre Eltern, wissen davon, aber diesen Sommer will sie nach den Ferien nicht wie üblich nach Berlin zurückkehren. Sie will den in Israel auch für Frauen obligatorischen Militärdienst leisten. So möchte sie ihrem Land, ihrer jüdischen Gemeinschaft, ihren Vorfahren, die für dieses Land gekämpft haben, etwas zurückgeben.


"Ich will es, weil ich hier eine echte Aufgabe erfüllen kann, so wie er [ihr Liebhaber vom letzten Sommer, A.d.R] und all die anderen Soldaten, eine, die wirklich sinnvoll ist." / S. 11

Der Schein trügt

Doch während ihres Aufenthalts beginnt die Fassade zu bröckeln. Talia erlebt erstmals bewusst, wie Palästinenser*innen in Israel behandelt werden, wie arabische Bewohner*innen Jerusalems mit Fäkalien beworfen und schikaniert werden, sieht Geisterdörfer, aus denen alle Palästinenser*innen vertrieben wurden. Ja, sie reist mit Systemkritiker*innen sogar nach Hebron, in die Westbank. Was sie dort an roher, rassistischer Gewalt durch die israelische Armee und Polizei erlebt, verändert ihr Bild von Israel. Und es verändert die Perspektive auf ihre Verwandten, die der israelischen Propaganda grösstenteils verfallen sind, ja, diese mit der Muttermilch aufgesogen haben, um einmal die Metapher des Buchtitels zu bemühen.


"Gestern Abend kam die Meldung, dass an die tausend Zivilisten in Gaza getötet wurden, davon fast vierhundert Kinder. War Guy [Talias Cousin, A.d.R.] daran beteiligt? Hat er auch Kinder getötet?" / S. 102

Einzig in ihrer Grossmutter hat sie ein Gegenüber, das sie in der Erweiterung ihrer Perspektive auf Israel und seinen Umgang mit den Palästinenser*innen (und auch arabischen Israelis) stärkt. Zudem erhalten wir durch Tagebucheinträge von Talias kürzlich verstorbenem Grossvater Einblicke in das Leben eines Holocaust-Überlebenden, der für die Staatsgründung Israels kämpfte. Grossvater Sigi war sogar Offizier und entsprechend an zahlreichen Vertreibungen beteiligt. Die Figur wird allerdings sehr ambivalent gezeichnet, indem der Grossvater freundschaftliche und romantische Beziehungen zu Palästinenser*innen hatte und immer versuchte, Menschenleben zu schützen. Nicht ganz klar wurde mir, ob Talia diese Ausschnitte auch liest, denn wir erfahren nicht, was sie darüber denkt. Eine Auseinandersetzung findet damit im Buch nicht statt, auch wenn wir wissen, dass Talia die Tagebücher geerbt und somit Zugang zu ihnen hat.


Ethischer Konflikt

Nirit Sommerfeld hat mich mit ihrem Roman "Beduinenmilch" sehr überzeugt. Es ist sehr spannend, Talia auf ihrer Reise nach Israel zu begleiten, die israelische Gesellschaft so unmittelbar (durch Talias Augen) kennenzulernen. Wir begleiten Talia nicht nur durch den wichtigen, aufwühlenden Lebensabschnitt des Erwachsenwerdens und bei der Abnabelung von ihren Eltern, sondern durchleben mit ihr zahlreiche Gewissensfragen. Ob und wie man sich für "sein" Land einsetzen möchte, was ein Menschenleben wert ist, wie man mit problematischem Verhalten von Familienmitgliedern in der Vergangenheit und in der Gegenwart umgehen soll, was richtig und was falsch ist. Talia muss so einige Gewissheiten über das "Wesen" Israels über Bord werfen und hinter die Fassade blicken. Sie ist anfangs zwar naiv, entwickelt sich dann aber immer mehr und findet zu ihren Prinzipien der Menschlichkeit.


Etwas unrealistisch ist vielleicht, wie sie sich in einen Justizfall einmischt und diesen beeinflussen kann. Da stehen erfahrenere Personen (wie Menschenrechtsaktivist*innen und liberale Anwält*innen) wohl in Realität ohnmächtiger da als Talia im Roman. Aber für den Handlungsverlauf ist dieser Strang der Geschichte konsistent und hat den Lesegenuss nicht gestört. Man würde sich tatsächlich wünschen, eine junge Frau aus Deutschland könnte einfach kommen und so viel bewirken.


Fazit

Ich kann das Buch "Beduinenmilch" mit seiner erfrischenden Sprache, der spannenden Erzählweise und dem ungeschönten, ehrlichen Blick auf Israel herzlich empfehlen. Ich hoffe, dass uns die deutsch-israelische Autorin, Schauspielerin und Sängerin Nirit Sommerfeld mit weiteren Romanen beschenkt und weiterhin nicht vor "heiklen" Themen zurückschreckt. Ein Lob auch an den Verlag, dieses Buch in der aktuellen Zeit gefördert und veröffentlicht zu haben. Eine wichtige Stimme für Menschlichkeit und gegen den Genozid in Gaza und die Besetzung der Westbank!



Die Fakten

Nirit Sommerfeld

ars vivendi

344 Seiten

Erschienen am 30.07.2025

Hardcover mit Lesebändchen

ISBN 978-3-7472-0716-1



Website von Nirit Sommerfeld (lohnt sich sehr, hier der Artikel zu ihrem Buch, aber schaut auch in die Videos!)



PS: Herzlichen Dank an ars vivendi und Netgalley DE für das digitale Rezensionsexemplar. Die Seitenangaben beziehen sich auf das E-Book und können von der Printversion abweichen.



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