Nirgendwo. Überall. Die Geschichte einer europäischen Familie
Nathalie Sassine-Hauptmann legt mit "Nirgendwo. Überall." gleichzeitig ihren Debütroman und ein Memoir ihrer Familie über mehrere Generationen vor. Eine Familiengeschichte, die von europäischer Geschichte genauso durchdrungen ist wie von den Persönlichkeiten aller Familienmitglieder.
![Nirgendwo. Überall - Nathalie Sassine-Hauptmann (Selfpublisher 2024)](https://static.wixstatic.com/media/e2c212_86fb9cca94e045f5842a05ad93ffb018~mv2.jpg/v1/fill/w_980,h_980,al_c,q_85,usm_0.66_1.00_0.01,enc_auto/e2c212_86fb9cca94e045f5842a05ad93ffb018~mv2.jpg)
Nathalie Sassine-Hauptmann stellt ihrer Familiengeschichte in Romanform ein Zitat von Iris Wolff voran:
"Man ist, einmal gegangen, immer ein Gehender." Iris Wolff - Lichtungen
Natürlich hatte sie damit bei mir schon mal einen Stein im Brett. Das Zitat ist aber auch die ideale Klammer für einen Roman über drei (bis vier) Generationen von Frauen, die es über die Jahrzehnte mal dahin, mal dorthin in Europa treibt. Für die Generation der Grossmütter Martha und Lucia ist das noch recht wörtlich zu verstehen: Das "Gehen" ist im Fall von Martha eine Flucht vor den russischen Soldaten im Zweiten Weltkrieg von Ostpreussen in den Westen Deutschlands. Mit dabei sind ihre Mutter Bertha und die zwei jüngeren Schwestern. Der Vater bleibt zurück, um den Hof zu verteidigen. Lucia und ihren Mann Salvatore hingegen treibt es nach Kriegsende aus dem konservativen, streng katholischen Sizilien mit geringen wirtschaftlichen Möglichkeiten in die florierende Industriestatt Norditaliens, nach Turin.
Das Zurechtfinden in der neuen "Heimat" ist für beide Frauen nicht leicht. Ja, sie fragen sich ihr Leben lang, wo denn nun ihre Heimat wirklich ist, wo sie sich zuhause fühlen. Die beiden Familiengeschichten treffen mit ihren beiden Kindern Helmut und Sophia aufeinander: Beide sind der Enge ihres jeweiligen Zuhauses als junge Erwachsene entflohen und versuchen ihr Glück in der viel weltoffeneren Metropole Paris, wo sie aufeinandertreffen und sich ineinander verlieben.
Über den weiteren Verlauf der Geschichte und die dritte bzw. vierte Generation möchte ich nicht zu viel verraten, aber irgendwann landen Helmut und Sophia mit ihrer Tochter Mathilde in der Schweiz. Auch sie, noch in Paris geboren, wird sich also die Frage stellen, was Heimat bedeutet und wo ihre Wurzeln liegen.
Zwei Familien im Strudel der Weltgeschichte
Sehr gut gefallen hat mir der erste Teil von Nathalie Sassine-Hauptmanns Roman. Besonders die Geschichte der Flucht von Martha ist äusserst packend geschildert. Und die Autorin lässt auch die unangenehmen Seiten ihrer Familiengeschichte nicht aussen vor: Martha verehrte den Führer und glaubte an die Versprechen des Nationalsozialismus.
"Einzig die Tatsache, dass es bei den Mädchen vor allem darum ging, später eine gute Mutter und Hausfrau zu sein, ärgerte sie. Sie wollte einen Beruf erlernen!" / S. 14
Die Frage, ob sie tatsächlich kaum etwas von den Gräueltaten des Naziregimes wussten oder falls doch, wie sie passiv oder aktiv (im Falle von Helmuts Vater Hans als Soldat) sogar dazu beitrugen, wird sowohl sie selbst als auch die Generation ihrer Kinder und Enkelkinder umtreiben. Das Patriarchat in Kombination mit dem faschistischen Regime unter Mussolini spielt auch im Handlungsstrang, der in Italien angesiedelt ist, eine wichtige Rolle und wirft auch hier gezwungenermassen die Schuldfrage sowie die Frage nach einer besseren, freieren Zukunft - insbesondere für Frauen - auf.
Über die Generationen hinweg verliert die Erzählung für mich etwas an Sogkraft. Einerseits kamen mir die Personen (der Fokus liegt hier auf Lucias Tochter Sophia) nicht mehr so nahe und andererseits werden die Themen mit der Zeit redundant. Das ist natürlich dem Umstand geschuldet, dass sich in der Tat mehrere Generationen mit denselben Herausforderungen herumschlagen mussten (und das weiterhin tun). Dennoch hätte ich hier etwas mehr erzählerische Knappheit geschätzt.
Familiengeschichte aus weiblicher Perspektive
Die feministische Haltung der Autorin dringt insgesamt klar durch, indem sich ihre (weiblichen) Figuren intensiv am Patriarchat auf der familiären wie gesellschaftlichen Ebene abarbeiten. Nicht immer gelingt es ihnen, sich freizuschwimmen, manchmal sind die strukturellen und internalisierten Hürden zu gross. Gleichzeitig tappt die Erzählstimme doch einige Male selbst in die Falle, sexistische oder ableistische Stereotype zu reproduzieren. Würde dies als mangelnde Sensibilität der Figuren kenntlich gemacht, wäre das völlig verständlich und würde zur Vielschichtigkeit der Charaktere beitragen, doch das geschieht leider nicht.
So übernimmt Lucia den Spitznamen "la strega" (die Hexe) für ihre Schwiegermutter Lina und erklärt: "Das lag nicht zuletzt an ihrer haarigen Warze am Kinn und den langen, mit grauen Strähnen durchzogenen Haaren, die sie zu einem straffen Knoten band." / S. 24
Die Erzählstimme (aus der Perspektive von Martha) vermittelt implizit ein merkwürdiges Bild von behinderten Menschen, wenn sie über Marthas Schwester Johanna sagt: "Die trotz ihrer Behinderung immer fröhliche, schwatzhafte und lustige Schwester fand keine Worte mehr, um ihre Familie aufzumuntern." / S. 17
Abgesehen von dieser punktuellen Kritik und den kleineren Längen halte ich "Nirgendwo. Überall." von Nathalie Sassine-Hauptmann für einen spannenden Einblick in eine Familiengeschichte über mehrere Generationen, die massgeblich von den Verwerfungen der jeweiligen Zeit geprägt wurde. Besonders schätze ich die weibliche Perspektive, die sie in allen drei Generationen einnimmt. Die Verbindungen, die von Ostpreussen über Westdeutschland, von Sizilien nach Norditalien und von Paris bis in die Schweizer Provinz reichen, sind auch irgendwie ein Prototyp europäischen Lebens und zeigen, wie wir im Grossen - über Geopolitik und Weltgeschichte - und im Kleinen - über familiäre Verbindungen und individuelles Streben nach einem glücklichen Leben und einem Zuhause - miteinander verbunden sind. Egal, wohin wir auch gehen.
Die Fakten
Nathalie Sassine-Hauptmann
278 Seiten (Print)
Erschienen am 08.10.2024
EAN: 9783759890474
ISBN: 3759890474
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PS: Herzlichen Dank an Nathalie Sassine-Hauptmann für das digitale Rezensionsexemplar. Die Seitenzahlen beziehen sich auf das E-Book und können von der Printversion abweichen.
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