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Herkunft - ein preisgekrönter Roman

Saša Stanišić geht in seinem autofiktionalen Roman "Herkunft" der Frage nach, was Heimat bedeutet, was die eigene Identität formt und wie wir Erinnerungen schaffen und sie wieder verlieren. Wie mir der Gewinner des Deutschen Buchpreises 2019 gefallen hat, lest ihr in diesem Artikel.


Herkunft - Saša Stanišić (Luchterhand 2019)

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Wenn ihr meinen Newsletter abonniert habt, habt ihr es bereits mitgekriegt: Ich bin dieses Jahr unter den Buchpreisblogger*innen zum Deutschen Buchpreis 2023. Wenn am 22. August die Longlist veröffentlicht wird, wird uns 20 Blogger*innen je eins der 20 nominierten Bücher zugelost. Das lesen und besprechen wir dann auf unseren Kanälen - sei das nun ein Blog, ein Social-Media-Account, ein Podcast oder ein Youtube-Kanal.



Um mich auf den Deutschen Buchpreis einzustimmen, habe ich beschlossen, endlich "Herkunft" vom SuB (Stapel ungelesener Bücher) zu befreien. Es lag da schon seit dem ersten Lockdown 2020. Und die Lektüre hat sich sehr gelohnt und die Latte für die diesjährige Preisverleihung am 16. Oktober 2023 hoch gelegt.


Ein Roman aus Erlebtem, Erinnertem und Erdachtem

Eigentlich sind autofiktionale Erzählungen nicht unbedingt mein präferiertes Genre und die als Roman getarnte Nabelschau hat in den letzten Jahren - auch beim Deutschen Buchpreis - etwas Überhand genommen, wenn ihr mich fragt. Aber Saša Stanišić hat mich vor Jahren schon mit "Wie der Soldat das Grammofon repariert" (btb 2010) überzeugt und nun kürzlich mit seinem Kinder- und Jugendbuch "Wolf" (Carlsen 2023). Entsprechend vorfreudig ging ich an die Lektüre von "Herkunft".


Saša Stanišić erzählt in kürzeren und längeren Episoden vom Leben im ehemaligen Jugoslawien, von der Grossmutter und anderen Ahnen, vom Krieg und der Flucht, vom Ankommen und Zurechtfinden in einem neuen Land, in einer neuen Gruppe von Gleichaltrigen und einer über den Erdball verstreuten Verwandtschaft. Der Ich-Erzähler, also der Autor selbst, befindet sich in der Gegenwart und schaut zurück in seine Kindheit und Jugend, taucht aber auch in die Vergangenheit seiner Verwandten ab und erzählt von seiner gegenwärtigen Spuren-, Sprach- und Identitätssuche sowie vom Versuch des Festhaltens von - besonders bei der dementen Grossmutter - flüchtigen Erinnerungen.


Die ganze Erzählung ist durchzogen von Saša Stanišićs Humor, seiner Liebe zur Sprache und fantastischen Elementen wie dem Drachen der slawischen Mythologie. Indem die einzelnen Fragmente zahlreiche Schnittstellen aufweisen und einen Spannungsbogen aufweisen, wird aus einer Aneinanderreihung kleiner Erzählungen ein runder Roman, der nur in seiner Gänze funktioniert und dem Erzählten einen grösseren Sinn verleiht.


"Ich war ein Kind des Vielvölkerstaats, Ertrag und Bekenntnis zweier einander zugeneigter Menschen, die der jugoslawische Melting Pot befreit hatte von den Zwängen unterschiedlicher Herkunft und Religion." (S. 14)

Mit dem Tod Titos bekam die Föderation der jugoslawischen Republiken Risse, das wirtschaftliche Ungleichgewicht zwischen den Teilstaaten trat zu Tage, Religion und Herkunft wurden zum Grund gemacht für Ausgrenzung, Hass und Gewalt. Und 1992 flüchtete Saša Stanišić mit seiner Mutter aus Višegrad (heutiges Bosnien und Herzegowina) nach Deutschland. Der Vater folgte ein halbes Jahr später nach. Es verschlug die Familie nach Heidelberg, von der Drina an den Neckar.


Sowohl in Deutschland als auch bei Besuchen zurück in Ex-Jugoslawien wird er nach seiner Herkunft gefragt. Einmal sagt er:


"Wie man es dreht, Herkunft bleibt doch ein Konstrukt! Eine Art Kostüm, das man ewig tragen soll, nachdem es einem übergestülpt worden ist. Als solches ein Fluch! Oder, mit etwas Glück, ein Vermögen, das keinem Talent sich verdankt, aber Vorteile und Privilegien schafft." (S. 33)

Klar hat er als Geflüchteter zu kämpfen, ist täglich Ausgrenzung und Rassismus ausgesetzt, muss sich erst einfinden. Doch dass sie in Heidelberg gelandet sind, bezeichnet er später auch als Glück.


"Hier waren wir fremd, aber die Fremde war nicht bedrohlich, der Regen einfach nur Wetter, die Sonne nur sie." (S. 125)

Während es seine Eltern in den Jahren in Deutschland (sie werden später ausgewiesen) richtig schwer haben, auch weil sie beruflich wieder unten anfangen müssen, findet sich Saša immer besser zurecht, findet Freund*innen, trifft sich mit ihnen an der ARAL-Tankstelle, verliebt sich zum ersten Mal, lernt eine neue Sprache und lernt sie lieben.


"Der Koffer aus Sprache ist mit mehr Gepäck leichter geworden." (S. 136)

Und so findet er in der deutschen Sprache, im Schreiben, eine neue Heimat, während seine Grossmutter in Višegrad immer öfter nicht mehr weiss, dass sie sich gerade in ihrer eigenen Wohnung aufhält und in welchem Jahr sie eigentlich gerade ist. Und wann kommt eigentlich ihre kleine Schwester zurück?


Fazit

Ernst und gleichzeitig humorvoll zeichnet Saša Stanišić mit "Herkunft" ein Mosaik dessen, was seine Herkunft ausmacht, was ihm Heimat ist. Nicht nur geografisch, kulturell, religiös oder ethnisch, sondern auch innerhalb der Familie und Verwandtschaft, im Freundeskreis und im übertragenen Sinne in der Sprache. Er öffnet ein Fotoalbum transgenerationaler Erinnerungen und schreibt quasi gleichzeitig an seinem Tagebuch. Ein grosses Geschenk, dass er uns an seiner Reise teilhaben lässt. Eine grosse Leseempfehlung für einen unterhaltsamen, berührenden, interessanten, sprachverliebten Roman, aus dem wir viel mitnehmen können!


"Mein Widerstreben richtete sich gegen die Fetischisierung von Herkunft und gegen das Phantasma nationaler Identität." (S. 221f.)


Die Fakten

Herkunft - Saša Stanišić (Luchterhand 2019)

Saša Stanišić

Luchterhand (Penguin Random House)

368 Seiten

Erschienen am 18.03.2019

Hardcover

ISBN: 978-3-630-87473-9






Noch mehr Autofiktionales bei mint & malve

Auch wenn ich nicht speziell danach suche, ein paar autofiktionale Texte habe ich natürlich trotzdem gelesen und für gut befunden. Der Grad der Fiktionalisierung und die gewählte Form variieren dabei stark. Aber quantitativ messen lässt sich das ja sowieso nicht und am Ende geht es darum, eine Geschichte gut zu erzählen - egal, ob nun mit biografischem oder historischem Kern oder völlig fiktional.


Vielleicht ist in der Auswahl ja auch etwas für euch dabei:



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