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Prima facie

"Prima facie" von Suzie Miller ist ein spannendes, feministisches Debüt. Die australische Autorin erzählt die Geschichte eines Gerichtsfalls, der nicht nur das Leben einer Anwältin ins Wanken bringt, sondern auch ihren Glauben an das britische Rechtssystem. Die Leser*innen können sich diesem emotionalen Sturm nicht entziehen.


Prima facie - Suzie Miller (Kjona 2024)
Copyright: Kjona Verlag.

Suzie Miller hat "Prima facie" zuerst als Theaterstück geschrieben und die Geschichte nun in Romanform gegossen. Auf das Buch gestossen bin ich, weil ich unbedingt einmal etwas vom 2021 gegründeten Kjona Verlag (mehr über den sozial und ökologisch nachhaltigen Verlag erfahren) lesen wollte und der Blurb von Mareike Fallwickl (u.a. Autorin von "Dunkelgrün fast schwarz") auf dem Cover hat mich dann zu diesem Roman greifen lassen:


"Dieser Roman ist für alle, die nicht länger nach den Gesetzen des Patriarchats leben wollen."

Tessa Ensler hat es scheinbar geschafft. Die junge Ich-Erzählerin ist in der Nähe von London in der Arbeiterklasse aufgewachsen, noch dazu in einer Familie mit häuslicher Gewalt. Doch sie hat es nicht nur geschafft, in Cambridge Jura zu studieren und Anwältin (oder besser Barrister) zu werden, sie tut das auch noch richtig erfolgreich.


Im Umgang mit ihren Studien- und Anwaltskolleg*innen und ihren Freund*innen aus der britischen Oberschicht wird ihr zwar immer wieder bewusst, aus welch anderen sozialen Umständen sie selber stammt, aber sie meistert den Spagat dank ihrer guten Beobachtungsgabe recht gut:


"Ich studiere sie alle. Schon seit Jahren. Kopiere sie. Ich bin eine geschickte Imitatorin, bis ich irgendwann besser bin im Anwältinsein als jene, denen es angeboren ist." / S. 7

Und im Gegensatz zu vielen Kolleg*innen mit "old money" lebt sie mit Herz und Seele für das Gesetz und dessen gerechte Durchsetzung. Öfter vertritt sie auch - angebliche - Sexualstraftäter. Sehr geschickt nimmt sie die mutmasslichen Opfer ins Kreuzverhör, zeigt gnadenlos die Schwachstellen ihrer Zeuginnen-Aussagen auf und holt so - wenn auch nicht immer einen Freispruch - zumindest eine tiefere Strafe für ihre Mandanten heraus. Ob der Angeklagte schuldig ist oder nicht, spielt dabei keine Rolle. Ihr Job ist es, dem Richter und der Jury ein Urteil zu ermöglichen.


"Wir übernehmen keine Verantwortung. Wir sind nur gewissenhafte Sprachrohre, die ihre Mandanten beraten, wenn ihre Geschichte nicht aufgeht. Geschichtenerzähler. Nicht mehr und nicht weniger. " / S. 63

Ihr guter Ruf spricht sich herum und eines Tages wird sie von einer grossen, erfolgreichen Kanzlei angefragt, ob sie nicht die Stelle wechseln möchte.


Ist das Rechtssystem tatsächlich neutral?

Doch noch bevor sie sich darüber eingehend Gedanken machen kann, geschieht etwas, das sie dazu bringt, selber als Zeugin vor Gericht aufzutreten. Im Zeugenstand wird ihr klar, dass das englische Justizsystem bei weitem nicht so fair ist, wie sie selbst dachte. Weder bringt der Prozess die Wahrheit ans Licht, noch kommt beiden Parteien dieselbe Beweislast zu. Im Gegenteil, die ganze Last, eine glaubwürdige "Geschichte" zu erzählen, zu erklären, dass die Wahrheit wirklich die Wahrheit ist, liegt bei der Zeugin. Der Angeklagte muss sich im Gegensatz zu ihr nicht mal einem Kreuzverhör unterziehen.


In wechselnden Erzählsträngen - immer aus der Ich-Perspektive von Tessa - erzählt Suzie Miller in den verschiedenen Zeitphasen "Damals", "Vorher", "Jetzt" und "Danach" von Tessas Leben, ihrer Karriere und diesem einen Fall, der sie in eine neue Rolle drängt und sie erkennen lässt, in welch patriarchalem System sie steckt. Der Roman streift über Tessas Aufwachsen, ihren Weg zur Anwältin und ihren Arbeitsalltag vor allem das Thema des Klassismus. Mit dem alles verändernden Fall verschränkt sich der Klassismus mit dem Sexismus. Und Tessa beschliesst, das System herauszufordern:


"Ich habe einen so langen Weg hinter mir, bin so weit gekommen, war die ganze Zeit überzeugt davon, dass das System reibungslos funktioniert, dass es für Gerechtigkeit sorgen kann – jetzt soll es mir zeigen, dass das stimmt." / S. 151

Suzie Miller wirft uns sehr gekonnt in die Widersprüchlichkeit des Systems und damit die emotionale Achterbahn, die Tessa durchlebt. Durch die Wechsel der Erzählstränge vermittelt sie einerseits die notwendige Hintergrundinformation und baut andererseits die nötige Spannung auf, die sie dann fast durchgehend bis zum Ende des Prozesses zu halten vermag. Für meinen Geschmack könnten die Darlegungen des Settings und Tessas Gedanken zu ihrer beruflichen und sozialen Situation etwas knapper ausfallen. Dass sie ihre Herkunft nicht so einfach ablegen kann bzw. sie ihr von aussen immer wieder übergestülpt wird, hat man schnell verstanden. Dass die soziale Herkunft in sämtliche Beziehungen hineinspielt und ihre Weltsicht prägt auch. Das wird mir etwas zu stark ausgewalzt.


"Im Spiegel sehe ich nicht mich, eine geschrumpfte Version meiner selbst blickt mich daraus an. Gehetzt, ruhelos. Ich sehe eine Person, um die ich mich nicht mehr zu kümmern vermag." / S. 270

Überzeugt hat mich hingegen die Schilderung des Ohnmachtsgefühls, dem Tessa im Fall ausgesetzt wird. Wie krass sie dem System als Frau und Zeugin ausgeliefert ist. Und in wie viel privilegierterer Situation sich der angeklagte Mann aus gutem Hause befindet. Das lässt einen selbst ganz ohnmächtig zurück. Suzie Miller spielt da auch gekonnt mit den üblichen Mitteln des Patriarchats: Täter-Opfer-Umkehr, Gaslighting, Victim Blaming und Slut Shaming.


Darüber hinaus ist das Buch ein deep dive ins britische Justizsystem. Ich habe früher offensichtlich nur amerikanische Gerichtsfilme geschaut und französische und italienische Justizthriller gelesen, von Barristern, Solicitors und Kronanwälten mit ihren Rosshaarperücken hatte ich keine Ahnung.


Fazit

Ihr merkt, ich schreibe etwas um den heissen Brei, weil ich nicht zu viel spoilern möchte. Schliesslich will ich es euch nicht nehmen, die Spannung selber zu erfahren, gedanklich mit Tessa in den Zeugenstand zu treten, für sie, für alle Frauen und am Ende gegen das aktuelle patriarchale System. Suzie Miller hat mit "Prima facie" einen spannenden, gesellschaftskritischen, feministischen Gerichtsroman geschrieben, dessen Botschaft definitiv von allen Gesetzgeber*innen gehört werden sollte.


Die Fakten

Suzie Miller

Katharina Martl (Übersetzung aus dem Englischen)

Kjona Verlag

352 Seiten

Erschienen am 29.01.2024

Hardcover

ISBN: 978-3-910372-21-4




PS: Herzlichen Dank an den Kjona Verlag und Netgalley für das digitale Rezensionsexemplar.



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