Issa
Mirrianne Mahn präsentiert mit ihrem Debüt "Issa" einen kraftvollen #ownvoices-Roman, der verschiedene Epochen und Kontinente umspannt. Feministisch, bestürzend, bestärkend, lesenswert!
Die titelgebende "Issa" ist schwanger. Das löst nicht nur einen Sturm der Gefühle in ihr selber aus, sondern auch endlose Diskussionen mit ihrem weissen Freund, den sie nur den Kindsvater nennt, ihrem Stiefvater Jürgen und ihrer Mutter Ayudele, die sie zur Abtreibung überreden wollen. Die Mutter drängt sie zudem dazu, sofort nach Kamerun zu reisen, um dort die traditionellen Rituale zu durchlaufen, die eine Frau eigentlich schon vor der Schwangerschaft durchlaufen sollte. Ohne diese Rituale, so ihre Befürchtung, schwebt ihre Tochter in grösster Lebensgefahr.
Issa nimmt uns als Erzählerin mit auf ihre Reise nach Douala in Kamerun, die auch eine Reise zu sich selbst werden soll. Ob das gelingt, ist allerdings mehr als fraglich. Denn erstmal fühlt sich Issa bei ihren zwei Omas Marijoh und Namondo in Kamerun fast ebenso fremd wie in Deutschland. Hier ist sie zu weiss, dort ist sie zu Schwarz.
"Denn jetzt sitze ich wie ein Issa-Sandwich zwischen vier fremden Menschen und einem Hahn und wippe zu Miriam Makeba auf dem Weg zu einem Schamanen." / S. 86
In einem zweiten Erzählstrang reisen wir mit Mirrianne Mahn zurück zu all den Müttern, die vor Issa kamen, beginnend mit Urgrossmutter Enanga, die kurz nach 1900 in einer ländlichen Gegend von Kamerun aufwächst und mit ihrer Mutter für einen weissen Plantagenbesitzer arbeitet. Es ist die Zeit, als Kamerun eine deutsche Kolonie war. Und die Kolonisatoren brachten nicht nur die Eisenbahn in das zentralafrikanische Land, sondern auch enorm viel Leid. Auch für Enanga, die schon als 11-Jährige schwanger und vom Vater verstossen wird.
Im weiteren Verlauf des Romans wechseln sich die Passagen von Ich-Erzählerin Issa in der Gegenwart (im Buch 2006) mit denjenigen ihrer Vorfahrinnen ab. So spannt Mirrianne Mahn einen äusserst spannenden Bogen über 5 Frauengenerationen. Während Issas Erzählstimme emotional, aber auch sehr humorvoll ist, sind die Passagen in der Vergangenheit äusserst dramatisch. Ohne zu viel zu verraten: Issas Ahninnen Enanga, Marijoh, Namondo und Ayudele erleiden sehr harte Schicksale. Sie haben nicht nur mit den weissen Invasoren zu kämpfen, sondern auch mit den patriarchalen Strukturen und aus heutiger Sicht veralteten, oft frauenfeindlichen Traditionen.
"Ich hatte mir geschworen, niemals im die Lage zu kommen, in der ich meiner Tochter dieses Opfer abverlange. Aber wir leben in einer Welt, in der Frauen nun mal dafür da sind, die Probleme von Männern zu lösen." / S. 163
Mirrianne Mahn verhandelt in ihrem Roman Themen wie Rassismus, Kolonialismus, Versklavung, Zwangsehe, Krieg, Colorism, Patriarchat, Polygamie, Gewalt an Frauen, aber auch religiöse und Stammestraditionen, Essen und Musik, Vielsprachigkeit, Gemeinschaft, Schwesternschaft, Feminismus, Mutterschaft und Bildung. Das klingt in der Fülle vielleicht konstruiert, ist aber ganz organisch in die Romanhandlung eingebaut. So gelingt es der deutschen Autorin, Aktivistin, Theatermacherin und Politikerin, nachvollziehbar zu machen, wie die einzelnen Schwarzen Frauen durch ihr Leben - inklusive Verwerfungen der Weltpolitik - geprägt wurden, wie sie zu den Müttern wurden, die sie waren bzw. sind, und damit wiederum ihre Töchter prägten und prägen.
"Hör mal, Issa. Ich weiss, dass deine Mutter dich ganz verklemmt gemacht hat und die Weissen sowieso verklemmt sind. Das liegt ganz einfach daran, dass es dort immer so kalt ist und sie so viele Klamotten tragen müssen." / S. 158
Das Buch ist leicht zu lesen, nicht hochliterarisch, aber benutzt kreative und erfrischende Vergleiche. Und Mirrianne Mahn zeichnet vielschichtige, facettenreiche Charaktere, die einem in ihrer ganzen Ambivalenz ans Herz wachsen. So musste ich so einige Tränen verdrücken, konnte aber auch herzlich lachen. Eine grossartige neue, weibliche und Schwarze Stimme, die scheinbar unvereinbare Welten und Zeiten zusammenbringt und deutlich macht, wie alles zusammenhängt. Von mir gibt es eine grosse Leseempfehlung für diesen autofiktionalen Roman!
Übrigens: "Issa" von Mirrianne Mahn ist für den Debütpreis der lit.Cologne nominiert. Ich drücke die Daumen!
Die Fakten
Mirrianne Mahn
Rowohlt
304 Seiten
Erschienen am 11.03.2024
Hardcover mit Lesebändchen
ISBN: 978-3-498-00390-6
PS: Herzlichen Dank an den Rowohlt Verlag für das Rezensionsexemplar und an Netgalley für die digitale Version.
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