Iowa - Ein Ausflug nach Amerika
Ihr denkt, der Deutsche Buchpreis kann nur ernst? Weit gefehlt - mit "Iowa - Ein Ausflug nach Amerika" von Stefanie Sargnagel wird es auf der Longlist richtig witzig.
Regelmässige Leser:innen meiner Buchtipps oder Follower:innen meines Instagram-Accounts wissen: Wir leben aktuell in Wisconsin, also im Mittleren Westen (Midwest) der USA. Das war für mich Grund genug, mir "Iowa" von Stefanie Sargnagel* vorzunehmen, das auf der Longlist zum Deutschen Buchpreis 2024 stand. Auf die Shortlist hat es der literarisch-satirische Ausflug nach Amerika nicht geschafft. Das finde ich schade, aber verwundert mich auch nicht. Es fehlt dem Buch wohl doch das letzte Quäntchen literarische Raffinesse, um die Jury zu überzeugen.
Satirischer Ausflug in den Mittleren Westen
Aber kommen wir zuerst einmal zum Inhalt: Stefanie Sargnagel, Autorin und Cartoonistin aus Wien, wird von einem College in Iowa eingeladen, um dort als Gastdozentin Creative Writing zu unterrichten. Sie nimmt das Angebot an, nimmt ihre Freundin und Musiklegende - ferner Dramatikerin, Autorin und Journalistin - Christiane Rösinger mit und fliegt nach Des Moines, in die Hauptstadt Iowas. Von dort geht es weiter in das kleine Städtchen Grinnell - irgendwo inmitten unendlicher Maisfelder.
"In Iowa werden wir gemeinsam leben, schaffen und uns entfalten. Im ländlichsten Staat der USA, der Kornkammer der Vereinigten Staaten, dem Zentrum der Mastschweinzucht. Über 90 Prozent Iowas sind landwirtschaftliche Flächen. Wir werden zusammen im Maisfeld stehen, Slipknot hören, einander zunicken und dann mit Waffen auf rostige Bohnendosen schießen." / S. 21
Vor Ort saugt Stefanie Sargnagel alle Eindrücke vom ländlichen Amerika und seinen Bewohner:innen in sich auf, diskutiert sie immer wieder mit ihrer Freundin oder anderen Menschen um sie herum und gibt sie äusserst unterhaltsam an uns Leser:innen weiter. Iowa ist nun wohl nicht gleich Wisconsin, aber ich habe den Midwest (und teils die USA im Allgemeinen) in so, so vielen Punkten wiedererkannt und musste unzählige Male laut lachen. Ich war nicht unbedingt in allen philosophisch-satirischen Gedankengängen mit der Autorin einig, aber das ist auch gar nicht nötig. Sie regt auf jeden Fall zum Reflektieren an - ob nun über das Walmartsortiment, das Rauchen (verpönt!), die sagenhaft hohen Studiengebühren oder Vertrauensvorschüsse für Barkeeper:innen.
"Scham. Seit ich eine kleine Eigentumswohnung kaufen konnte, bin ich zu meinem eigenen Feindbild aufgestiegen. Ein Klassenfeind." / S. 15
Stefanie Sargnagel schafft es, durchaus selbstkritisch und selbstironisch, nicht nur den schlammfarbenen Midwest auseinanderzupflücken, sondern sich selbst, die Kunst, Feminismus und andere Themen an ihren Beobachtungen zu spiegeln. So spricht sie nebenbei Rollenbilder, den Sinn und Wert von Kunst, Klassismus, Rassismus, unterschiedliche Generationen, Fatshaming und weitere gesellschaftspolitische Themen und Verwerfungen an.
"Die Decken sind niedrig, die Farben trüb. Über die Realität legt sich ab jetzt ein beige-bräunlicher Schleier. Das hier ist der vergilbte Teil der USA." / S. 28
Ihr glaubt ihr oder mir nicht? Schaut mal bei Steinhafels rein. Ich liebe die Abteilung "Living Room". Ja, so sieht es in amerikanischen Stuben aus. Draussen eigentlich auch.
Dabei fühlt man sich - im positivsten Sinne - auch ab und zu selber ertappt in seinen verkrusteten Vorstellungen und klischierten Bildern - sei es nun von der europäischen oder amerikanischen "Art zu leben" (ihr versteht das Wortspiel ;-)).
"Wenn ich ein Formular sehe, schlafe ich sofort ein, eine körperliche Reaktion, für die ich nichts kann. Und für die Einreise in die USA muss man online einen zwanzigseitigen Fragebogen ausfüllen, um überhaupt einen Termin am Konsulat zu bekommen." / S. 24
Ich dachte ja, die Schweiz sei bürokratisch. Weit gefehlt! Die zwanzig Seiten für den Konsulatstermin sind ein Klacks. Ich fülle hier gefühlt täglich zehn forms, waivers, sign-ups, registrations, you name it... aus. Auch gerne mehrmals dieselben (ich sage nur: immunization record), die dann bitte selber ausgedruckt, handschriftlich ausgefüllt und unterschrieben und persönlich abgegeben werden dürfen. Aber ich schweife ab...
Sehr gefallen hat mir auch, wie sie uns an ihrer Freundschaft mit der etwa 25 Jahre älteren Christiane Rösinger teilhaben lässt, die wie die Stimme aus dem Off kritische Kommentare zum Geschriebenen beisteuerte - ebenfalls sehr unterhaltsam.
"Inlandsflüge sind hier seit Jahrzehnten selbstverständlich, die Leute hocken so entspannt da wie in der U-Bahn, die Atmosphäre ist heimelig wie auf einer durchgefurzten Couch." / S. 26
Zugegeben, man muss mit etwas Fäkalhumor umgehen können, aber ich finde die Mischung aus kritischem und doch wohlwollendem Blick auf den Mittleren Westen sehr gelungen. Mit der Erwähnung eines meiner absoluten Lieblingsfilme (zumindest in Jugendjahren, ich bin nicht sicher, wie gut er gealtert ist) "Gilbert Grape - Irgendwo in Iowa" hat Stefanie Sargnagel bei mir definitiv einen Stein im Brett.
"Wie ich vor dem Lokal stehe, fühle ich mich widerständig, scheiß auf die bornierten Konventionen der Upper Class, und als ein Pick-up-Truck mit einem Raucher am Steuer vorbeifährt, sind wir sofort verbunden, wir Rebellen gegen die liberalen Snowflakes, die den einfachen Arbeiter am liebsten kastrieren und auch sonst seiner Männlichkeit berauben würden. Wir winken einander mit unseren Gewehrpenissen zu." / S. 65
Viele ihrer Analysen sind traurig, aber wahr.
"Die Geschichte Amerikas ist auch die Geschichte von Menschen, die wahnsinnigen Predigern vertrauensvoll ans andere Ende der Welt in ein neues Leben folgten." / S. 102
Und ist es noch, würde ich anfügen. Hoffen wir trotzdem, dass Stefanie Sargnagels Präteritum in obigem Zitat im Falle des orangeköpfigen Predigers richtig gewählt ist.
Fazit
Wenn ihr Lust habt auf eine links-feministische Künstlerin, die auf den ländlichen Mittleren Westen (immerhin an einem linksliberalen Elite-College mit diversem Publikum) trifft und uns voller Humor und Selbstironie von den Erlebnissen ihres US-Ausflugs erzählt, liegt ihr mit dem Roman "Iowa - Ein Ausflug nach Amerika" von Stefanie Sargnagel genau richtig. Ich wurde schon lange nicht mehr so gut unterhalten und habe wohl noch nie so viele Tränen gelacht.
Die Fakten
Stefanie Sargnagel
Rowohlt Verlag
304 Seiten
Erschienen am 18.12.2023
Hardcover mit Lesebändchen
ISBN: 978-3-498-00340-1
PS: Herzlichen Dank an den Rowohlt Verlag und NetGalley DE für das digitale Rezensionsexemplar. Die Seitenzahlen der Zitate beziehen sich auf das E-Book und können daher von denjenigen in der Printversion abweichen. Die Printversion enthält zudem Fotos, was einen schönen Eindruck gibt. Gönnt es euch!
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Weitere folgen, hab fleissig gelesen, aber noch nicht besprochen...
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Maman - Sylvie Schenk (Hanser 2023)
Drifter - Ulrike Sterblich (Rowohlt 2023)
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Kochen im falschen Jahrhundert - Teresa Präauer (Wallstein 2023)
Birobidschan - Tomer Dotan-Dreyfus (Voland & Quist 2023)
Weitere Bücher rund um das Leben in den USA in unterschiedlichen Regionen und Epochen
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Demon Copperhead - Barbara Kingsolver (dtv 2024)
Namen unbekannt - Sanora Babb (Reclam 2024)
Brown Girls - Daphne Palasi Andreades (Luchterhand 2024)
Vierzehn Tage. Ein Gemeinschaftsroman - Margaret Atwood und Douglas Preston (Hrsg., dtv 2024)
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Das Geheimnis meiner Superkraft - Alison Bechdel (KiWi 2023)
Pizza Girl - Jean Kyoung Frazier (Kampa 2022)
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Radium Girls - Ihr Kampf um Gerechtigkeit - Cy. (Carlsen 2021)
Das Haus in der Mango Street - Sandra Cisneros (Kampa 2020)
Ein anderes Brooklyn - Jacqueline Woodson (Piper 2019)
Nach der Flut das Feuer - James Baldwin (dtv 2019, Neuauflage)
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